Grand Prix d' Eurovision de la Chanson

Gestern abend gab es wieder den jährlich stattfindenden, europäischen Sängerwettstreit, im Fernsehen live übertragen in 43 Nationen.


Um es vorweg zu sagen: Ich habe keines der dort dargebotenen Werke gehört, da ich zu der Zeit bei einem Konzert der Berliner Philharmoniker war. Aber als ich wieder nach Hause kam, konnte ich die Abstimmung sehen. Und die ist ja wirklich interessant - vor allem, wenn man keines der Stücke gehört hat, über deren Qualität da abgestimmt wird. Denn diese Veranstaltung hat offenbar nur am Rande mit Musik zu tun (was mir angesichts der seit Jahren zuverlässigen Schrecklichkeit der Darbietungen schon lange klar ist), sondern mit Politik und nationalen Gefühlen.


Mir scheint, es lassen sich charakteristische Muster des Abstimmungsverhaltens beobachten. So stimmen zum Beispiel die jetzt autonomen, früher aber zum selben Staat gehörenden Nachfolgestaaten (bzw. ihre ans Telefon gehenden Bewohner) der ehemaligen Sowjetunion füreinander ab. Also: Russland für Weissrussland, die Ukraine, Georgien usw. Dasselbe gilt für das ehemalige Jugoslawien: Montenegro stimmt für Serbien, Bosnien-Herzegowina usw. Auch unter zentralistischer Gewaltherrschaft und Diktatur entwickelt sich so etwas wie Staatsbewusstsein und Stolz dazuzugehören.


Aber auch Nachbarschaft verbindet. Baltische und/oder skandinavische Staaten halten zusammen. Die Schweiz (!), wer hätte das gedacht, gibt als einziges (!) Land dem deutschen Song 2 Punkte (die zweitgeringste Möglichkeit ausser einen oder gar keinen Punkt zu geben - 12 ist das Höchstmaß). Bulgarien gibt dem deutschen Song eine 12, weil eine Bulgarin mitsingt.


Identifikation geht über Ästhetik, das könnte eine der Lehren dieser Veranstaltung sein.


Der Grund, warum ich für die Fortsetzung des Grand Prix bin, ist aber ihre aufklärerische Wirkung. Wer wüsste ohne ihn, dass es inzwischen autonome Staaten wie Aserbeidschan, Georgien, Armenien usw. gibt, dass all die alten russischen Kolonien jetzt autonom singen und tanzen dürfen.


Soviel politisches Bewusstsein wie an solch einem Abend vermittelt wird, ist wahrscheinlich durch ein ganzes Jahr dritter Programme nicht zu erreichen. Und soviel politische Diagnose auch nicht.


Durch den Grand Prix wird uns allen die Neuordnung Europas deutlich. Im alten Europa kann man mit diesem Wettbewerb offenbar keinen Blumentopf mehr gewinnen: Großbritannien, das Mutterland des Pop, Heimat der Beatles und Stones etc., landet mit Deutschland, dieser durch die Tradition des 50er-, 60er-, 70er-, 80er-, 90er-Jahre Schlagers verwüsteten, musikalischen Einöde auf dem letzten Platz.


Alle singen zwar Englisch, aber die Musik ist eine Katastrophe, die Abstimmung ist politisch, sie erfolgt nach dem Freund-Feind-Schema.


Rumsfelds "Neues Europa" singt, so sollte der Wettbewerb heissen.