REVUE Nr 13, Transformation. Feedback zu Gilgamesh und Christeene 7

REVUE, Magazine for the next society. Transformation. Nr 13. Sommer 2013


REVUE Editorial:

„… Die REVUE ist ein Resonanzraum für all diese Stimmen, in dem immer wieder die Frage nachhallt: ist eine Next Society eher als Wiedereinführung verlorener Möglichkeiten zu verstehen – und weniger als deren Ablösung? Wir wären auch auf Ihre Antworten gespannt…“


Feedback

Ich beziehe mich hier auf diese „Wiedereinführung“ – zeichne einen in REVUE gespannten Bogen nach, um diesen – ihn inhaltlich ergänzend – mit einem Plädoyer zu beschließen, und damit sich verlierende, beinahe schon verlorene Möglichkeiten in Erinnerung zu rufen.


Der skizzierte Bogen


GILGAMESH, übersetzt von William Muss Arnolt 1901.


CHRISTEENE, skype-geviewt von Ludwig Plath (*Zitate)


V. Die Ästhetik der Geschlechter-Differenz


Ich plädiere hier für Aisthesis. Statt den Kopf vor der von uns so nachhaltig konstruierten Realität in den Sand zu stecken, um (geistig notwendige) Konflikte los zu werden, plädiere ich für die individuelle Wahrnehmung der Ästhetik der Geschlechter-Differenz auf hohem Niveau.

Prokreation ist sowohl Ergebnis als auch Grund von Selbst-Bewusstsein, und der mit dem Selbstbewusstsein einhergehenden Entfaltung des Geistes.


Gregory Bateson zeigt dies in lapidar erzählender Weise in „Geist und Natur“ und seiner Untersuchung über die verschiedenen Ebenen der „Fälle“ von Zweiheit, als „des (größeren) Musters das verbindet.“ Von den in neun Kapiteln angeführten Beispielen nennt er in Kapitel eins „als einfachstes aber auch tiefstes“ die Tatsache, „dass es zumindest zweier Etwasse bedarf, um einen Unterschied hervorzubringen.“


Und weiter: „Um die Nachricht von einem Unterschied, d.h. Information, zu produzieren, braucht man zwei (reale oder imaginäre) Entitäten, die so beschaffen sind, dass der Unterschied zwischen ihnen ihrer wechselseitigen Beziehung immanent sein kann; und das Ganze muss so aussehen, dass die Nachricht von ihrem Unterschied als ein Unterschied innerhalb einer informationsverarbeitenden Entität, z.B. eines Gehirns (...) dargestellt werden kann.“ (GN S.87)


In Kapitel 7 - „Der Fall der beiden Geschlechter“ (GN S. 99) - hebt Bateson Spaltung und Verdopplung als Grunderfordernis des Lebens hervor. Er merkt an, dass Spaltung durch Fusion interpunktiert werden muss und dies eine allgemeine Wahrheit sei, die das untersuchte Prinzip der Informationsverarbeitung exemplifiziert: dass nämlich zwei Informationsquellen (oft in entgegengesetzten (!) Modi oder Sprachen) einer einzigen weit überlegen sind.“ (Hervorhebung von mir)


Über die binäre Differenzierung von Gameten und die Differenzierung in zwei Arten von vielzelligen Individuen, welche die beiden Gametenarten hervorbringen, sind „alle diese Arten der Differenzierung mit Sicherheit auf die Informationsökonomie der Spaltung und Fusion und des sexuellen Dimorphismus bezogen.“


„Was ich dreimal sage ist wahr“ (Lewis Caroll) (GN S 86)


Das muss alles nicht erst neu bewiesen werden, aber es muss wiederholt werden, damit es ins (Selbst)Bewusstsein zurück dringt.


Darüberhinaus, so Bateson, „sorgt die Gametenverschmelzung sowohl für eine Begrenzung der individuellen Abweichung als auch für die Sicherung der vielfältigen Neukombination des vielfältigen Materials.“ (GN, S.101)


Interessant ist: Seine Erkenntnistheorie bezeichnet Batson als integrierte Meta-Wissenschaft, eine Wissenschaft des Geistes im weitesten Sinn, in deren Auflistung, wie er betont, das Wort Bewusstsein fehlt. Er, Bateson, verwende „dieses Wort nämlich lieber ganz spezifisch, nämlich für eine eigenartige Erfahrung, durch welche WIR (...) uns manchmal der PRODUKTE unserer Wahrnehmung und unseres Denkens bewusst sind, über größere Teile der Prozesse jedoch unbewusst bleiben.“ (Hervorhebungen von mir) (GN, FN S. 112)


Bezüglich der von ihm erstellen Kriterien des geistigen Prozesses schreibt Bateson weiter: „Möglicherweise könnten sich aus G. Spencer-Browns Laws of Form (...) tiefe Umstrukturierungen der Grundlagen von Mathematik und (sic) Erkenntnistheorie ergeben.“ (GN S.113)


Kanon Null. Koproduktion. Der aus der ersten Unterscheidung folgende Kalkül der Form von George Spencer Brown ist sein mathematisch-logischer Beitrag zur grundlegenden Umstrukturierung des Erkennens und Verstehens.


Aus der ersten Unterscheidung folgt alles, was ist. Die Entfaltung des Geistes, aus der asymmetrisch und sexuell unterschieden Zweiheit über das im Gehirn strukturierten (Selbst)Bewusstseins, beinhaltet instantanes WIR-Bewusstsein seiner Koproduktion und bringt - im selben Augenblick - die PRODUKTE SEINER WAHRNEHMUNG hervor...


Prokreation erzeugt und zeugt von Bewusstsein. Die Zwei-Seiten-Form “Mann“ & „Frau“ – die letztlich erste Unterscheidung des Bewusstseins aus Nichts -, ist das spannendste Forschungsgebiet der Zukunft. Wir brauchen eine breit angelegte ästhetische Forschung, um deren koproduzierenden kulturellen und poetischen Reichtum geisteswissenschaftlich und literarisch weiter auszudifferenzieren. Wir benötigen hierfür empathische individuelle Paare, die diesen Reichtum praktizieren. Es entsteht eine amour fou im Hier und Jetzt einer je ganz individuellen Lebens-Übereinkunft.


Anstatt weiterhin den Sozial-Plattitüden über Ehe und Familie statt zu geben und in der Naturwissenschaft Hormone zu bemühen, und den Feminismus den Fuß in die Türe stellen zu lassen, wird diese geschlossen. Privatsache. Hier findet die Voraussehung der individuellen Neudefinition der heterosexuellen Liebe im Sinne der Romantik statt. Wir tun, was zu tun ist, ohne dass irgendjemand noch etwas davon merkt!


Wo die Romantik noch einen Begriff der Liebe auszudifferenzieren wusste und diesen an eine Theorie der Liebe gebunden hat, - eine religiös-sakrale Tiefe, und eine gleichzeitig praktizierte Distanz propagiert - , und die auch für MÖGLICH hält, scheinen heute psychische Infantilität und abendliche Gemeinplätze, erschöpfte Flachheit und banale Alltäglichkeit, Terminkalender und Zeitverbringen im Stau oder im öffentlichen Verkehrsmittel, das „Normale“.


Ist es möglicherweise „ein Abweichen von der Normalität, die all dies ermöglicht?“ fragt Niklas Luhmann in Hinblick auf die romantische Neufundierung der Liebe:


“Radikaler als je zuvor wird man konzedieren müssen, dass Liebe alle Eigenschaften auflöst, die für sie Grund und Motiv sein könnten (...) deshalb kann nicht alles gesagt werden. Transparenz gibt es nur in der Beziehung von System und System, sozusagen an Hand der Differenz von System und Umwelt, die das System konstituiert. Liebe kann diese Transparenz nur selbst sein“ (Liebe als Passion S. 223) – so schließt Luhmann in Liebe als Passion zwar nicht euphorisch, - aber deutlich empathisch der hermetischen Liebe zugetan.


„Die Liebe selbst ist ideal und paradox, sofern sie die Einheit einer Zweiheit zu sein beansprucht. Es gilt in der Selbsthingabe das Selbst zu bewahren und zu steigern, die Liebe voll und zugleich reflektiert, ekstatisch und zugleich ironisch zu vollziehen. In all dem, so Luhmann, setzt sich eine neuartige, typisch romantische Paradoxie durch: die Erfahrung der Steigerung des Sehens, Erlebens, Genießens durch Distanz.“ (Liebe als Passion, S. 172)

(Es darf hier dazu ermuntert werden, dass, zumindest Kapitel 13 – 16 von Liebe als Passion, also knappe 60 gut leserliche Seiten von passioniert Liebenden bei Luhmann nachgelesen werden sollten, - falls sie neuen Mut benötigen.) (Es lohnt sich auch Lucinde wieder zu lesen)


Nähe und Distanz. Einverständnis und Konflikt. Demgegenüber steht das politisch verordnete Verwaltungs-Programm des Gendermainstreaming.


Die darin angestrebte Geschlechter-Neutralisierung unter männlicher und/oder feministischer Regie, entspringt einem aktuellen weiblichen Machtstreben, einer männlichen Machtverhüllung, und einem naiven sozialen Trugbild, nämlich dem Wunsch nach Konfliktfreiheit. Es geht gerade nicht um die Vermeidung von Konflikten, sondern um bewusste gegenseitige Anerkennung, - und das bedeutet zugleich - es geht um die Anerkennung von Konflikten.


Anerkennung bedeutet nicht „Toleranz“ noch „Gleich-gültigkeit“ dem Anderen gegenüber (also Gleichheit), sondern die rationale, emotionale, diskursive Auseinandersetzung mit dem Konfliktpotential gegenseitigen ein-ander Anderseins.


Tatsächlich vertraue ich deshalb auf die unbewusste Selbst-Steuerung und die bewusste Selbst-Würdigung einer bisher evolutionär und kulturell erfolgreich funktionierenden Unterscheidung. Kein Schöpfungsfehler! Neutralisierung und Gleichmachung ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Es geht heute möglicherweise darum, das langsam oszillierende dialektische Pendel in einem geringeren, - also noch überblickbaren - Ausschlag-Modus zu halten, um sich der notwendigen Unterschiede bewusst zu bleiben, und schleichende Gleichmacherei wo es geht klar auszuschlagen, und das Anderssein ersprießlich neu zu erfinden. (Niklas Luhmann macht in seinem Büchlein Protest darüber wundersame Anmerkungen, auf die ich zurückkomme)

Im eigentlichsten Sinn geht es erstmals um bewusste männliche und um bewusste weibliche Selbst-Bestimmung IN konditionierter Koproduktion. Das ist kein oberflächliches „Verhandeln“ und Gefeixe um Hausarbeit, Kinderdienste und Quoten, sondern ein bisher unverstandener, bisher kaum gelebter, neu zu erfindender, kreativ zu verstehender und erfrischender produktiver Konflikt!


Es geht definitiv um einen doppelsinnigen - „widerständigen Unterschied der Geschlechter“ - wie es Dirk Baecker in REVUE Nr 13 – quasi unter vorgehaltener Hand - nur noch als Randbemerkung zum Ausdruck bringt.


Und nun, bitte hergehört: Bewusst Kinder zu zeugen, bedeutet bewusst Leben zu geben, etwas, das in reichen Gesellschaften eigentlich auch zum bewussten Leben gehören müsste. Das trauen wir uns gar nicht mehr zu denken. Wir trauen es uns auch kaum noch wirklich zu. Haben keine Langmut. Leben scheint nur mehr auf steile „Karriere“ (was immer das sein mag) und aufs mediale und materielle Konsumieren ausgerichtet.


Lebengeben ist nicht allein der wundersame Beitrag zum Fortbestand der eigenen Familie, einer Gruppenidentität, oder eines Volkes, sondern es dient der Fortzeugung, der Erweckung, Erfahrung und Praxis des je individuellen Menschseins. Mutterliebe und Vaterliebe bilden nicht nur die Basis jeglicher Menschlichkeit, sondern auch die Basis prokreativer Geschlechteridentifikation. Sie bilden zusammen das Fundament für Selbstwürde, Selbstvertrauen, Wir-Gefühl und Menschenwürde.


Also keine öffentlichen Belobigungen. Kein Muttertag, kein Mutterkreuz, auch kein Vatertag, keine TV-Werbung und keine Ausrede! Dafür hier und jetzt subversiv handelnde heterosexuelle Paare mit Würde und Selbstverständnis, die bereit sind, Kinder als ernsthafte, unabhängige Eltern zu begleiten, und so zumindest versuchen, gemeinsam Geistes- Leibes-, und Herzensgebildete Erwachsen unterschiedlichen Geschlechts zu erlauben und zu fördern.


Ist das - als Lebens- und Liebeserfüllung und als zentraler Menschheitszweck – nicht eventuell genug?


Es scheint unter uns „Zivilisierten“ allmählich und wie von ungefähr in Vergessenheit zu geraten. Unter dem Titel „individueller Freiheit“ vergessen wir, (besonders angeblich Akademikerinnen) uns Kinder zu erlauben. Wegen dem Karriereknick, weil die Welt eh schon überbevölkert ist und weil wir vom Chaos fasziniert sind, das demnächst über uns hereinbricht. Aber Letzteres ist ein Irrtum. Es ist schon längst da.


Man merkt allmählich: ich plädiere hier ernsthaft für die Wiederbelebung der philosophischen, literarischen und poetischen Preisungen der heterosexuellen Liebe und die Anerkennung ihrer individuellen und sozialen Früchte. Für die Anerkennung des Wagens und des Wagnisses, des individuellen Bestrebens, der individuellen Übung, und des individuellen Hochhaltens der Liebe.


Das alles jenseits der Niederungen täglicher Praxis, jenseits der Gesellschaft, sowie jenseits des Sozialstaates und seiner Mangelverwaltung und biederen Familienpolitik, jenseits der Karriere, jenseits der Unterhaltungen despektierlicher Medienpolitik. Sondern diesseits der individuell praktizierten und subjektiv verantworteten Liebe – privat in der Umwelt von Gesellschaft!


Ich verstehe Aisthesis, als das prokreative Wahrnehmen der Geschlechterdifferenz, als prinzipiellen Widerstand der Liebes-Paare gegenüber ihrer sozialen, politischen und vor allem ideologischen Verwaltung. Als paarweise Subversion und gegenseitige Loyalität - auch nach einer möglichen Trennung noch. Als gemeinsam praktizierter Mutwille.


((Mutwille dann durchaus auch zur gesetzlich formulierten Forderung notwendiger qualitativ gestaffelter Erziehungsgehälter, Förderungen und Absicherungen der Kinder-Zeit durch Renten mittels unserer Steuergelder – nicht als Almosen, sondern als Ermutigung und Selbstverständlichkeit. ((Aber dies nicht unbedingt! - falls Selbstbewusstsein, Freigeist und Pioniergeist überwiegen))