GESUND: WARUM ?

Immerhin, es steht was da !


Wenn auch meine Gliederung des Textes beim Kopieren völlig verloren ging und die Fußnoten verschwanden. Es sollte am Anfang eine kleine Abbildung erscheinen: Die „Road Map“ von Saul STEINBERG. Leider ist mir auch das nicht gelungen. Nun – ich fange ja erst an.


Für heute habe ich einen Text vorbereitet über das seltsame Phänomen, dass trotz gigantischer Anstrengungen der modernen Medizin die Menschen scheinbar ( oder anscheinend ?) immer kränker werden.


GESUND: Warum ?


Wäre ein kollektiver Zustand in völliger Gesundheit eigentlich denkbar oder wünschenswert ? Denkbar ist er nicht ! Dualismen bedingen einander: Krank – gesund; Schmerz und die Abwesenheit von Schmerz im Wohlbefinden. Nur auf einer anderen, höheren Ebene der Betrachtung sind Gegensatzpaare aufzuheben. NONDUALES DENKEN: Wer hätte das uns beigebracht ?


Die Sorge, es könnte ein Zustand permanenten Wohlbefindens erreicht werden, ist jedoch völlig unbegründet. Heerscharen von Mitmenschen arbeiten mit immer raffinierteren Methoden daran, uns krank und kränker zu machen. Auch wenn die moderne Medizin die schlimmsten Infektionskrankheiten früherer Zeiten in den Griff bekommen hat; wir leiden umso mehr unter der Angst vor neuen. Die kunstvoll geschürte Massenhysterie wird pandemisch.


Früher starben Hunderttausende an der Pest oder ähnlichen Seuchen. Heute sterben jährlich mehr als hunderttausend Menschen allein in den USA an den Folgen der Arzneimitteltherapie (adverse drug reactions).


Trotz ( oder wegen ?) der phantastischen Erfolge der Medizin haben die psychosomatischen Erkrankungen zugenommen. In Ermangelung natürlicher Erkrankungen werden nun sogar die Krankheiten artifiziell: Viele Menschen machen sich selber krank – ob bewusst (und mit Absicht) oder eher unbewusst bedeutet keinen gravierenden Unterschied. Die Krankheit wird zum Ausdrucksmittel in einer sprachlosen Zeit; die Symptome müssen gelesen werden als Mitteilungen an die anderen und an den großen Anderen, der sich uns entzog.


Warum also sprachlos gesund ?


GESUND: Warum ?


Im Nachlaß meiner Mutter fand ich einen Zettel, auf welchem sie eine Melodie notiert hatte; darunter stand:

„Die Gesunden verstehen die Welt nicht.“


Ob sie etwas von den vier Ausfahrten des Prinzen Siddhartha, des Buddha, wusste ? Ich weiß es nicht genau; wir haben darüber leider nie gesprochen. Wie überhaupt ich sehr bedaure, dass ich mit ihr über vieles nicht mehr sprechen kann; ich habe es zu ihren Lebzeiten versäumt. Zu beschäftigt ! Zu verwirrt ! Zu ängstlich vielleicht auch ! Der Prinz erfuhr auf seinen Ausfahrten zum ersten Mal in seinem Leben, dass es Krankheit gibt, dass die Menschen alt werden und sterben müssen. Alter, Krankheit und Tod: Dies sind die wahrhaften Bedingungen des menschlichen Daseins; und sie alle bedeuten: Leiden !Wer versucht dem Leiden zu entgehen, wird niemals dem größten Grundübel des Seins entrinnen: der Unwissenheit ! Wir müssen Krankheit, Alter und Tod erfahren, um auf dem spirituellen Weg voranzukommen. Ein Leben ohne Leiden gebiert Monster.


Georg Büchner (1813-1837) rief sterbend – aus einem Fieberwahn für kurze Augenblicke erwacht: „Wir haben der Schmerzen nicht zuviel, wir haben ihrer zu wenig, denn durch den Schmerz gehen wir zu Gott ein ! Wir sind Tod, Staub, Asche, wie dürften wir klagen !“ „Ja durch Schmerzen dringt man zu Gott!“

In unserer Zeit wird viel von Lebensqualität gesprochen. Ich bin nicht sicher, was wir darunter verstehen sollen: Waschmaschine, voller Kühlschrank; schönes Auto und mindestens 20 Fernsehprogramme (ich übertreibe etwas).

Aus meiner Sicht hat Lebensqualität etwas mit der „Bewusstheit“ zu tun; mit der Bewusstseinsstufe, die ein Mensch erklimmt. Die Qualität des Lebens – meine ich – ist verknüpft mit der Intensität und Komplexität wahrhaftiger Beziehungen, erstanden aus dem Fluß eines ununterbrochenen (perpetuellen) Wahrnehmungsprozesses.


Die Qualität des Lebens hat etwas mit der Breite und Tiefe dieses Flusses der Wahrnehmungen zu tun (nicht unbedingt etwas mit der Menge). Wahrzunehmen sind vor allem die Anderen und das Andere; ein Leben, welches sich in der Selbstwahrnehmung erschöpft, geht seiner Qualität verlustig. Und wahrzunehmen sind auch die allem Sein innewohnenden Merkmale: Das Merkmal der Nichtdauer; das Merkmal der Unzulänglichkeit und das Merkmal der Nicht-Substantialität (dies bedeutet, dass nichts aus sich heraus und für sich allein existieren kann).


Wichtig scheint mir, dass diese Erfahrungen unvermittelt zustande kommen und nicht aus zweiter oder dritter Hand. Die Authentizität der Erfahrung ist eine der Voraussetzungen für schöpferische Lernprozesse. Und die Erfahrung des Schmerzes ist eine ganz wichtige Bedingung für die Optimierung unserer komplexen Körper- und Hirnfunktionen des Gedächtnisses und der Erinnerung.

Die Passion scheint die Bedingung für den Prozeß der Erlösung zu sein. Die Passion Jesu Christi, die Passion der Jeanne d’Arc und vieler vieler anderer Heiliger ist nicht wegzudenken aus dem Leben dieser ganz außergewöhnlichen Menschen. In diesem Zusammenhang hört man oft den Vorwurf, das Leid würde auf diese Weise verherrlicht. Es wird von nutzlosem Leiden und von sinnlosem Schmerz gesprochen. Es wird die Angst geschürt vor unnützem Leid; niemand mehr will den Tod erleiden ! Er soll kommen unbemerkt und unerkannt.


Wie vordergründig ist doch diese Sicht der Dinge ! Es ist doch allein der Tod, welcher unserem Leben Sinn und Qualität zu schenken vermag. Der Tod ist das Tor zum Leben: diesseits.


Die Notwendigkeit einer Kurskorrektur der gesellschaftlichen Entwicklung wird immer offenkundiger: Wir können die Welt ändern, wenn wir nur wollen. „Ein Mensch, der sich ändert, ändert die Welt; denn wir sind die Welt.“ Dies schrieb Ayya KHEMA. Eine Veränderung des Denkens – regelte das Geschick. Keine Institution hat das Recht – und auch nicht die Macht – uns ein Denken aufzuzwingen, welches unsere Lebensgrundlage zu zerstören droht und den uralten, ganz elementaren und natürlichen Bedürfnissen der Menschen zuwiderläuft. Liebende Zuwendung – Empathie – ist die wundervollste Fähigkeit der menschlichen Seele; sie gilt es zu kultivieren (und nicht abzurechnen !). Wir selbst – und unser Denken – sind verantwortlich für den Zustand unserer Kultur. SIMONE WEIL nannte einmal vier Dinge, vor allem, die dem entgegen stehen, dass wir eine Kultur besäßen, die etwas taugt:


„Unsere falsche Auffassung der Größe; das herabgeminderte Gerechtigkeitsgefühl; unsere Vergötzung des Geldes; und das Fehlen einer wirklichen religiösen Gesinnung in uns.“(Die Einwurzelung; L’enracinement).

Aber dieses ließe sich ändern – wir müssen lernen, in einer anderen Weise zu denken. „We have to learn to think in a new way.” – so heißt es in einem Potsdamer Manifest 2005; zusammengestellt von Wissenschaftlern, in Verantwortung genommen durch ihr Denken. Hier ist u.a. zu lesen:


„Stetiger Wandel ist ein Charakteristikum kultureller Evolution und ebenso ein Kriterium für kulturelle Zukunftsfähigkeit. Wenn dieser fehlt, ist ein Erstarren eines Kulturmodells bis zum Zusammenbruch vorbestimmt. Ist die Wandlungsfähigkeit, die Fähigkeit zum kulturell evolutiven Prozeß, über die kulturinternen Strukturen fest an ökonomische Systeme gebunden und sind diese hauptsächlich an materielle Ausgangsvoraussetzungen geknüpft, dann kann eine kulturelle Weiterentwicklung nur in den Grenzen der materiellen Welt stattfinden. Werden diese Grenzen erreicht, führt dies zum kulturell-evolutiven Stillstand und letztlich zu einem Ausstieg aus der dynamischen Evolution des Lebens. ...

Wenn wir die eskalierenden Probleme betrachten, welche heute die Menschheit belasten, so sind sie im überwiegenden Maße eine Folge extremer Machtballungen und wirtschaftlicher Ungleichheit, dirigiert und forciert von einem lebensfeindlichen finanziellen Netzwerk, das, anstatt das Beziehungsgefüge zwischen den Menschen zu Gunsten der Menschen zu stärken, zum ‚unersättlichen’ Selbstzweck verkommen ist...

Ein neues, doch uns wohl vertrautes Menschenbild wird sichtbar, das von empathischen Menschen ausgeht. Wir sollten uns von den Konfrontationen und Verzerrungen unseres zivilisatorischen Alltags nicht in die Irre führen lassen. Unsere Existenz als Menschen heute zeigt uns, dass auch wir das erfolgreiche Ergebnis einer ähnlichen, schon Milliarden Jahre währenden Entwicklung sind. Unsere Zuversicht ist nicht ohne Basis. Wir müssen neues Wissen schaffen und so handeln, dass Lebendigkeit vermehrt wird und vielfältig erblüht. Wir können uns darauf verlassen, dass diese Kraft in uns wirkt. Denn die Allverbundenheit, die wir Liebe nennen können und aus der Lebendigkeit sprießt, ist in uns und in allem Anderen von Grund auf angelegt.“


Was wird aus unserer Industriekultur, wenn alles wächst, nur eines nicht: die Weisheit ?

Stetes Wachstum ist ein häufiges Phänomen in der Natur: Allerdings nur Wachstum bis zum Untergang, zum Tod des Systems, bis zum Verschwinden. „Velut luna - statu variabilis - semper crescis aut decrescis“- so heißt es in den Carmina Burana.

Wenn Städte wie Hexenringe wachsen, über die Ufer treten, wächst das Elend mit.

Wenn Kulturen implodieren wächst nur noch die reine Furcht, die nackte Angst vor der Vernichtung, weniger die Angst vor dem Herrn (TIMOR DOMINI) und schon gar nicht die Gottesliebe (AMOR DEI), i.e. unsere Liebe zu Gott und die uns umfassende Liebe des Göttlichen.


Naturgesetze seien – so schrieb einmal ein Philosoph im blauen reiter (Klaus KORNWACHS: Ein Naturgesetz ist (k)ein Naturgesetz. Der blaue reiter 2, 1995) – nichts anderes als eine Art Gebrauchsanweisungen zur Nutzung der Natur; BRECHT’s Beobachtung: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Denn wovon lebt der Mensch ?)– ist auch kein Naturgesetz, sondern vielmehr nur eine Anleitung zur Ausbeutung des Menschen.

Die Evolution des Menschlichen (die Emergenz der Humanität) wird uns von diesen Zwängen befreien.


Wir haben gar keine andere Wahl.


Mögen alle, die sich in wegloser, schrecklicher Wildnis finden-


Die Kinder, die Alten, die Ungeschützten, die Umnachteten-,


Von gütigen Himmlischen beschützt werden.


(Aus dem Bodhicharyavatara des Shantideva. In: Terry CLIFFORD: Tibetische Heilkunst. Otto Wilhelm Barth Verlag, Bern München Wien 1984; p.169).


Mit herzlichen Grüßen verbleibe ich - bis morgen - Ihr Jürgen Bohl