Geheimnisse

Schreiben ist eine Form sich mitzuteilen mit der Ausdrucksmöglichkeit der Worte; Schreiben ist: eine Be-schreibung der erlebten Wirklichkeit. Ein Schreibstück ist mir auch noch viel mehr.


Das was nicht in der Beschreibung niedergeschrieben ist, ist für mich oft viel interessanter. Das was weggelassen wurde, das was manchmal zwischen den Zeilen auftaucht, eine Botschaft wie unter der Perforation des Papiers, ist bedeutend und gestaltet Wirklichkeit.


Was schreibe ich heute – und was nicht?


Also ich schreibe nichts von meinen Geheimnissen, eher über sie. Zumindest denen mir bewussten Geheimnissen. Sie spielen sicher keine so große Rolle, wie ich mir das einbilde. Wenn ich mir vorstelle, in 50 Jahren würde jemand ein Buch von mir finden, in dem alle meine Geheimnisse verzeichnet wären, was würde er denken, über mich? Sicher würde er sich darüber amüsieren, um was ich ein Geheimnis machte.


Das Geheimnis gestaltet Leben. Also Beziehungen. Wo kämen wir denn hin, wenn es keine Geheimnisse mehr gäbe, voreinander.

Und letztendlich gibt es da noch das große Geheimnis: was ist nach dem Tod? Viele geben an, das Geheimnis gelüftet zu haben. Jede Religion hat dazu eine Antwort. Und doch bleibt es bis heute (für mich) ein Geheimnis.


Geheimnisse wirken anziehend.


Wenn ich über sie rede, um sie herum rede, wird mir vielleicht der Sinn des Geheimnisses offenbar. Das erlebe ich auch als Berater, wenn ich darauf verzichte das Geheimnis zu lüften.


Und dennoch.

Das Geheimnisvolle ist doch soo interessant. Ich weiß noch gut, als ich mich als kleiner Junge an den Schrank im Schlafzimmer schlich, in dem das „Doktorbuch“ stand. Dort war der Körper des Mannes und der Frau genau abgebildet. Und jeder Körperteil noch einmal extra. Sie werden sicher ahnen, was für mich das Interessante war, das ach so Geheimnisvolle. Und wie es da drinnen, dahinter aussah… Es erregte mich schon als kleiner Junge. (Wie geht es wohl dem Frauenarzt – sieht er nur noch die Schleimhäute? Was sieht er bei seiner Frau? Und was denkt sie, sieht er bei ihr?)


Heute sagen es einige meiner Klienten gerade heraus: „Ich möchte schon einmal wissen, ob Sie auch Probleme haben, ob Sie manchmal auch mit ihrer Frau streiten, oder ob Sie mit Ihren Eltern in Frieden sind...?“

Daraus mache ich kein Geheimnis. Ich bestätige das und dass ich ein ganz normaler Mensch sei – der Rest bleibt Geheimnis – zumindest vor meinen Klienten.


Der Mann eines bekanntes Liebespaars, das bewusst nicht zusammen in einer Wohnung lebte, meinte: „Ich will mir meine Frau ein Geheimnis sein lassen. Es wäre unerträglich für mich, sie morgens im Bad oder auf dem Klo zu sehen.“


In dem Roman „Was ich liebte“ schreibt der Ehemann seiner Frau, die einen Lehrstuhl an einer Uni eines anderen Bundesstaats annahm, seitenlange Briefe. Er beschreibt seinen ganzen Tagesablauf und seine Erlebnisse, und seine Frau antwortet ihm. Er aber liest in ihren Briefen vor allem zwischen den Zeilen, sucht nach versteckten Hinweisen, Andeutungen, in dem Nicht-Geschriebenen.

Doch er findet nichts. Es gibt kein Zeichen, ob es einen anderen Mann in ihrem Leben gibt oder nicht.


Wer hat sich wohl schon die Mühe gemacht alle seine Geheimnisse einmal aufzuschreiben, und was würde dann geschehen, wenn er/sie alle so festgehalten auf Papier vor sich sieht?


Natürlich frage ich mich, an was kann ich die/den LeserIn Anteil nehmen lassen, wenn ich diese Woche schreibe, wenn ich über mein Er-Leben, meine Gedanken schreibe – (aus meinen Gedanken heraus schreibe?). Für mich ist es ein Offenbaren meiner Person. Und das im Internet!

Sicher, viele tun das, lassen sich sogar Kameras in ihr Badezimmer aufstellen und prügeln sich in Talkshows.


Für mich ist das ungewohnt und gleichzeitig herausfordernd. Wo will ich unentdeckt bleiben vor Ihnen? (Noch wichtiger: wo gelingt es mir und wo nicht?)


Wo will ich mich entdecken lassen von meiner Frau – und wo nicht. Und wie erkläre ich mir das?

Wo will ich mich entdecken lassen von dem einzelnen Klienten – und wo nicht. Und wie erkläre ich mir die Unterschiede, die ich bei einzelnen Klienten mache?


Hans Jellouschek unterscheidet zwischen guten und schlechten Geheimnissen bei Paaren und bezieht sich auf Rosemarie Welter-Enderlin. Er beschreibt das „gute Geheimnis“ daran erkennen zu können, wenn in der Beziehung damit Wachstum verbunden ist.


Das ist sicher richtig, doch Geheimnisse haben auch ihr Eigenleben und wenn es entschlüpft, auch das noch so gute Geheimnis, kostet es den anderen eine mögliche Verletzung und Kränkung.


Da fällt mir noch eine Geschichte ein, wenn es um das Eigenleben von Geheimnissen geht. Sie wurde mir von meiner Kollegin Mirjam Essen erzählt:


Ein Mann hörte, dass es in der Stadt einen weisen Mann gäbe, der tatsächlich wüsste, wo ein Schatz begraben liegt. Sofort machte sich der Mann auf, den Weisen aufzusuchen. Dieser sagte ihm dann, das sei tatsächlich so. Er wüsste, wo ein Schatz versteckt sei. „Ja, wo denn“, entgegnete der Mann sofort. „Da oben auf dem Berg, den du von hier aus siehst. Du musst ihn besteigen und dann findest du auf seiner Spitze einen Steinkreis und in der Mitte einen weißen Stein. Den musst du wegrollen und dort genau gräbst du; so etwa 30 Zentimeter tief. Dann findest du, wonach du suchst.“

Am nächsten Morgen brach der Mann auf, fand den beschwerlichen Weg und fand tatsächlich auf der Bergspitze den Steinkreis und tatsächlich den Stein in der Mitte. Er hob ihn zur Seite und fing an zu graben.

Als er so grub dachte er nach, ob das alles so mit rechten Dingen vor sich ginge: “So einfach ist das alles. Da muss es doch noch etwas geben, auf was besonders zu achten ist. Vielleicht gibt es da noch etwas, was der Weise mir vorenthalten oder vergessen hat, gar ein Geheimnis...“

Gleich schob er den Stein wieder an seinen Platz und machte sich auf zum Abstieg. Beim weisen Mann angekommen freute sich jener schon und erkundigte sich, ob er alles gefunden habe. „Ja“, meinte dieser, alles hätte er so vorgefunden. Was ihm jedoch seltsam vorkäme, wäre dass alles so einfach gewesen sei und dass es vielleicht noch etwas gäbe, auf was er besonders zu achten habe. Vielleicht gäbe es ja noch ein Geheimnis bei der ganzen Sache, wie er zu graben habe, vielleicht auf einem Bein oder ähnliches.

„Lass mich nachdenken“, meinte der Weise. „Wenn du das so sagst, dann gibt es da wirklich noch etwas. Und tatsächlich, es ist ein Geheimnis und ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Der Mann bedrängte aber den Weisen so sehr, dass dieser schließlich nachgab und meinte: „Also beim Graben darfst du auf keinen Fall an einen Elefanten denken.“