Führt Wissen zur Resignation?

In meinem ersten Beitrag zur systemischen Kehrwoche möchte ich mit einem Thema beginnen, dass mich momentan bewegt und vor ein paar Wochen sogar sehr überrascht hat: Wissen kontra Gewissheit! Ich habe in Wien einen Vortrag bei der Sir Karl Popper Society zum Thema Systemtheorie und Konstruktivismus gehalten. Der Vortrag war vorüber und es gab die Möglichkeit Fragen zu stellen. Gleich die erste Frage hat mich sehr überrascht und wieder einmal gezeigt, wie unterschiedlich die Interpretationen der Leser zur Intention des Autors sein können. In Anlehnung an Gergen ist Schreiben eines Textes eine Art der Welterzeugung, der zwei Arten konstruktivistischer Dialoge zugrunde liegen: einerseits konstruktivistische Dialoge, die einen Einfluss auf den Text selbst haben, und andererseits der Dialog, der sich zwischen den Lesern und dem Text entwickelt. Und die Entwicklung dieses zweiten Dialogs hat zu meiner großen Überraschung geführt.


Die Frage bezog sich auf die Schlussbemerkung meiner Veröffentlichung „Systemische Intervention in der Mitarbeiterführung“ im Carl-Auer Verlag, die so lautet: „Am Anfang dieses Vorhabens hatte ich weniger Wissen, aber mehr Gewissheit über Führung. Jetzt in der letzten Zeile dieser Arbeit muss ich gestehen: Jetzt habe ich sehr viel mehr Wissen über Führung, aber viel weniger an Gewissheit!“. Und die Frage - gestellt von einer Pädagogin im Ruhestand - lautete: „Ist das nicht traurig, wenn man sich so intensiv mit einem Thema beschäftigt, und dann am Schluss resigniert eingesteht, dass man viel weniger Gewissheit hat?“. Aus Ihrer Sicht war die wichtigste Veränderung für mich, die ich bisher immer nur positiv konnotiert habe, negativ: Resignation. Genau das wollte ich aber nicht mit diesem Text ausdrücken! Weniger Gewissheit war für mich positiv besetzt im Sinne von Multiperspektivität, mehr Möglichkeiten, ganzheitliches Denken und natürlich auch im Sinne einer systemischen Haltung. Aber wie man sieht kann man das natürlich auch ganz anders sehen, und daher meine Frage an die Leser: Wie sehen Sie das, führt mehr Wissen zu weniger Gewissheit? Oder noch provokanter gefragt: führt Wissen zur Resignation?