Freier Wille

Die Frage, ob der Mensch über einen freien Willen verfüge, erfreut sich in letzter Zeit wieder grosser Beliebtheit.


Das ist ja nichts Neues, denn sie stellt sich wahrscheinlich, seit die Idee des freien Willens überhaupt erfunden wurde. Wie kann man ihn unterstellen, wenn in dem großen Buch "da oben" sowieso schon alles festgeschrieben ist (Schicksal, Vorrrrrrsehung, Fatum, Kismet)?


Heute ist es die Hirnforschung, die Zweifel geweckt hat. Die Experimente von B. Libet haben gezeigt, dass das Hirn mit der Initiierung muskulärer Aktionen schon beginnt, bevor die bewusste Entscheidung dazu getroffen wird. Ist es also unser Gehirn, das entscheidet, und nicht wir selbst? - so die Frage. Das Bewusstsein konstruiert offenbar die Kausalität für die Geschehnisse, denen es ausgeliefert ist, nachträglich, und zwar so, dass es sich die Ursache dafür zuschreibt.


Aus einer konstruktivistischen Sicht ist dies nur dann ein Problem, wenn zwischen dem "handelnden Subjekt" und seinem Gehirn unterschieden wird, frei nach dem Motto: "Der Geist ist willig, aber das Gehirn ist schwach".


Wem soll denn die Verantwortung zugeschrieben werden, für das, was ein Gehirn an Prozessen generiert, wenn nicht seinem Besitzer? Meines Erachtens ist die Unterstellung eines freien Willens eine sehr praktische und nützliche Angelegenheit, denn sie ermöglicht relativ klare soziale Spielregeln, die Verantwortlichkeiten für Handlungen und deren Konsequenzen festlegen. Oder umgekehrt: Wenn solche Spielregeln festgelegt sind, dann ist die Unterstellung eines handelnden Subjekts nur eine logische Konsequenz. Daher ist die Unterscheidung zwischen Hirn und Hirnbenutzer sehr problematisch, wie jeder weiss, der schon mal ein psychiatrisches Gutachten in einem Gerichtsprozess abgegeben hat.


Ab einem gewissen Alter, sollte jeder die Verantwortung für sein Gehirn und dessen Aktivitäten übernehmen.


Theoretisch lässt sich ja gut argumentieren, dass der Organismus als Beobachter erster Ordnung fungiert (d.h. nicht nur das Gehirn, sondern im Sinne von A. Korzybski der gesamte Organismus, der dementsprechend "semantische Reaktionen" prodziert) und das Bewusstsein als Beobachter zweiter Ordnung. Es beobachtet u.a. sein Gehirn und konstruiert eine Kausalität, die - so wie es das umgebende Sozialsystem nahe legt - der psycho-physischen Einheit "Individuum" die Ursache für seine Aktionen zuschreibt.


Ich persönlich bin auf jeden Fall bereit, die Haftung für die Entscheidungen meines Gehirns (bzw. des dran hängenden biologischen Restes) zu übernehmen, auch wenn ich mir seiner Ideen immer erst den Bruchteil einer Sekunde später bewusst werde. Und da ich nicht zwischen mir und meinem Organismus unterscheide, gehe ich davon aus, dass ich aus freiem Willen entscheide - wenn auch nicht immer im vollen Bewusstsein dessen was mein freier Wille da entscheidet.