Fragwürdiges

Nach einigen Seiten der Berichtslegung und diversen organisatorischen Alltagsgeschäften komme ich nochmals auf die Wende-Thematik. Was hat es mit dem "mediatic turn" auf sich?

Der Ausdruck ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig. Da ist zunächst die Inflation an Wende-Erklärungen, die sich seit der Nachkriegszeit häufen und in immer kürzeren Zyklen ausgerufen werden. Während der "linguistic turn" noch eine vergleichsweise breite Akzeptanz erfahren hat und viele Jahrzehnte wirksam war, sieht es mit der Breitenwirkung späterer „Wenden“ eher mager aus. Ansprüche einer disziplingeschichtlichen Zäsur u. a. stellen sich mitunter als Wirkungen im nahen Umfeld eines Akteurs heraus oder sie haben gewissermaßen phantomatischen Charakter und lösen sich bei näherer Betrachtung auf. Hinzu kommen faktische und fiktive forschungspolitische Handelsinteressen, die in Relation zu epistemologischen Motive oftmals überwiegen.

Andererseits dämmert die zunehmende Bedeutung medialer und kommunikationstechnologischer Entwicklungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Auch die Coaches, TherapeutInnen und SupervisorInnen kommen ohne eine gewisse Medienpräsenz nicht mehr aus, ganz abgesehen von den neuen Formen der Online-Beratung. Während lange Zeit nicht nur in alltagsweltlichen Kontexten die verschiedensten kulturellen Phänomene häufig wie Naturgesetze ausgefasst wurden, wird die Dynamik kultureller Entwicklungen und die Brüchigkeit des kommunikativ Stabilisierten für viele BeobachterInnen immer klarer sichtbar. Auch (oder gerade) in Ländern mit konservativen Regierungen werden die Sehnsüchte nach nachhaltigen Wirkungen von Maßnahmen immer wieder enttäuscht, und die vormaligen meta-theoretischen "Sicherheiten" der Akademia sind bereits vor den massenhaft auftretenden Trance-Phänomenen angesichts von Forderungen der Nützlichkeit, Marktfähigkeit und Nachhaltigkeit in einem Pluralismus von Ismen aufgegangen.

Es geht inzwischen wohl um mehr als um die Sprachvermitteltheit unserer Erkenntnis- und Verständigungsbemühungen. Es geht um die Frage nach den symbolischen Formen und der Formbestimmtheit dieser Bemühungen und nicht zuletzt um die Problematisierung von Ansprüchen der Unmittelbarkeit und der – mehr oder weniger exklusiven – Bestimmung "wirklich" fundamentaler Problemanordnungen.

Wenn nun die besagte Sprachvermitteltheit um pikturale oder intertextuelle oder – allgemeiner ausgedrückt – um (inter-)mediale Optionen erweitert wird, dann stellt sich die Frage der Konzeptionierung entsprechender Themenstellungen und Konstellationen. Reinhard Margreiter hat im deutschen Sprachraum im Anschluss an die Arbeiten von Ernst Cassirer als erster unter dem Stichwort "medial turn" eine Antwort versucht, die ich hier zitieren und zur Diskussion stellen will. Er schreibt:


"Die … Unterscheidung eines sprach-, schrift-, buch-, bild- und rechnergestützen Denk- und Kulturtypus führt zwangsläufig zum Konzept eines (geschichtlich relativen) Medien-Apriori. Nicht nur die Neuen Medien, sondern auch die 'alten' Medien Oralität, Literalität und Buchdruck – genauer: die jeweilige historische Konstellation interagierender Medien – sind als dieses Apriori zu begreifen und funktional zu beschreiben. Medienphilosophie stellt somit weitaus mehr dar als eine sogenannte Bereichsphilosophie, denn Medialität ist nicht eine periphere, sondern die zentrale Bestimmung des menschlichen Geistes." (Margreiter 1999, S. 17)


Die Beschreibung historischer Konstellationen interagierender Medien und deren Bedeutung für die Kommunikationsprozesse erscheint mir durchaus fruchtbringend, aber läuft sich das zwangsläufig auf ein Medien-Apriori hinaus?


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Margreiter, Reinhard (1999): Realität und Medialität. Zur Philosophie des 'Medial Turn'. In: Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur, Jg. 23, H. 1, S. 9 – 18.