EXKURS: zu Wertbegriff, Autologie, Eigenwerten

Exkurs: aus systemtheoretischer Sicht der Soziologie Niklas Luhmans (nachzulesen in: Gesellschaft der Gesellschaft, Band 2, S. 1118 - 1125)


(...) Der Beobachter ist eben kein Subjekt mehr mit transzendental begründeten Sonderrechten im Safe; er ist der Welt, die er erkennt ausgeliefert. Er muss sich auf der Innenseite oder auf der Außenseite der Form, die er benutzt, verorten. Er ist selbst, sagt Spencer Brown, ein „mark“. (The observer, since he distinguishes the space he occupies, is also a mark“)


Denn jede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschaftsbeobachtung, wenn sie als Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft. Die Gesellschaftskritik ist Teil des kritisierten Systems, sie lässt sich inspirieren und subventionieren, sie lässt sich beobachten und beschreiben. Und es kann unter heutigen Umständen schlicht peinlich wirken, wenn sie bessere Moral und bessere Einsicht für sich reklamiert.


Eine weitere Konsequenz (...) Selektion ist unumgänglich und Vollständigkeit ausgeschlossen. Weder in der Fremdbeobachtung noch in der Selbstbobachtung kann die gesamte Realität eines autopoietischen Systems erfasst werden. (...) aber ein Beobachter kann entsprechende Regeln erkennen (...)


In all diesen Hinsichten ist auch die Soziologie als Form der Selbstbeobachtung der Gesellschaft ihrem Gegenstand, was dessen Autopoiesis betrifft, überlegen, aber autopoietisch redundant. Wenngleich ihr Wissen gesellschaftliches Wissen ist und bleibt, weiß die Soziologie mehr, als eine Gesellschaft ohne Soziologie wissen würde. Um dies zu benennen hat Paul Lazarsfeld den Begriff *latent structure analysis* eingeführt und zur Methodologie empirischer Sozialforschung in Verbindung gesetzt.


Latenz in diesem Verhältnis ist der Beobachtungsbereich eines Beobachters erster Ordnung, der mehr als bisher über seinen Gegenstand wissen möchte. (...) es gibt auch die Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung, der Beobachtung der Gesellschaft als eines beobachtenden Systems. Auch für den Beobachter zweiter Ordnung gilt, dass er weniger und anderes sehen kann, als der beobachtete Beobachter. Für ihn gewinnt daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann. Und das, was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und Kontingentes. Aber daraus folgt nicht, dass man auch sagen könnte, wie es anders zu machen wäre.


Versteht die Soziologie sich als „kritisch“ in diesem Sinne, folgt sie damit nicht notwendigerweise den Direktiven der „Frankfurter Schule“. Sie kann die bloße Konfrontation, die Ablehnung von „Kapitalismus“, „Klassenherrschaft“ vermeiden, die in einer Negation ohne Alternativen stecken bleibt. Auch wenn man Latenzen, Ideologien, Vordergründigkeiten und Sichtunmöglichkeiten der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung mit einschließt, und auch wenn man sieht, dass die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum erträglichen Folgen führen, liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung eines anderen Gegenstandes Gesellschaft, sondern nur eine Verlagerung von Aufmerksamkeiten und Empfindlichkeiten in der Gesellschaft. Nimmt man „kritisch“ in diesem Sinne, heißt das zunächst, dass die Soziologie die Position eines Beobachters zweiter Ordnung einnimmt. Sie hat es mit einer Beobachtung von Beobachtern zu tun. Das schließt, wie bereits bemerkt, eine „autologische“ Theoriekomponente ein.


Denn der Gegenstand dieses Beobachtens ist das Beobachten, und es ist eine zweite Frage: ob fremdes Beobachten oder eigenes. Ferner führt dieses Programm unausweichlich zu einem „konstruktivistischen“ Wissenschaftsverständnis. Eine Wissenschaft, die sich selbst als Beobachtung zweiter Ordnung begreift, vermeidet Aussagen über eine unabhängig von Beobachtungen gegebene Außenwelt, und sie findet die Letztgarantie des Realitätsbezugs ihrer Kognition allein in der Faktizität ihres eigenen Operierens und in der Einsicht, dass dies ohne hochkomplexe Voraussetzungen (wir hatten von struktureller Kopplung gesprochen) gar nicht möglich ist. Es wäre mithin verfehlt, hier die Gefahr eines „Solipsismus“ zu wittern. Das Korrektiv liegt in der Beobachtung zweiter Ordnung selbst, nämlich in der „autologischen“ Komponente der Erkenntnis und in der Einsicht, dass alles Erkennen Unterscheidungsgebrauch ist und insofern – nur insofern! – stets eine Eigenleistung des Systems. Nicht einmal das hier diskutierte Problem könnte formuliert werden, wenn es nicht die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz gäbe; und diese Unterscheidung kann, wie sich schon aus der Formulierung ergibt, nur im System selbst und nur ohne jedes Korrelat in der Umwelt getroffen werden.


Der Beobachter erster Ordnung, hier also die normale gesellschaftliche Kommunikation, beobachtet die Welt, um eine Formulierung Maturanas aufzugreifen, in einer „Nische“, und für ihn ist daher die Welt ontisch gegeben. Seine Philosophie wäre eine Ontologie. Der Beobachter zweiter Ordnung kann dagegen eine System/Umwelt-Beziehung erkennen, die in der für ihn gegebenen Welt (in *seiner* Nische) auch anders organisiert sein könnte. Was der Beobachter erster Ordnung sieht und was er nicht sieht, hängt für den Beobachter zweiter Ordnung davon ab, welche Unterscheidungen der Beobachtung zu Grunde gelegt werden; und das können immer auch andere Unterscheidungen sein.


Das gilt für jede Beobachtung, also auch die Beobachtung zweiter Ordnung. Jede Beobachtung benutzt eine Unterscheidung, um etwas (aber nicht die Unterscheidung selbst) zu bezeichnen. Jede Beobachtung benutzt, mit anderen Worten, die operativ verwendete Unterscheidung als blinden Fleck, denn anders wäre sie nicht in der Lage, etwas herauszugreifen, um es zu bezeichnen. Und auch das gilt für die Beobachtung zweiter Ordnung, die einen Beobachter (und nichts anderes) herausgreift, um ihn zu beobachten. In dem Maße, in dem Theorien in diesem Sinne radikal konstruktivistisch überarbeitet werden, muss die Voraussetzung einer *strukturellen* Latenz, durch die Voraussetzung einer *operativen* Latenz ersetzt werden. Das heißt für die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, dass *notwendige* Latenz **kontingent** wird, nämlich wählbar wird und immer auch anders möglich ist – je nach dem, welche Unterscheidung der Beobachtung zugrundegelegt wird. (Fußnote zu „kontingent“: Dass man sich hier, in der Beschreibung dritter Ordnung, auf eine Paradoxie einlassen muss, ist leicht zu erkennen, wenn man bedenkt, dass die Kontingenz durch Negation von Notwendigkeit definiert wird. Und ebenso deutlich wird, dass wir uns in einer supramodalen Sphäre befinden, die einst ausschließlich für Gott reserviert war.)


Was Selbstbeschreibungen den Gesellschaft angeht, also des Systems, das in sich selbst Beobachtungen erster und zweiter Ordnung ermöglicht, führt der Übergang von der ersten zur zweiten Ebene dazu, die Realität als kontingent, als auch anders möglich zu beschreiben. Die Selbstbeschreibung endet für den Beobachter erster Ordnung mit Angaben über invariante Grundlagen, über die Natur und über Notwendiges. Heute nimmt der Wertbegriff, der Superunbezweifelbares symbolisiert, diesen Platz ein.


Für den Beobachter zweiter Ordnung erscheint die Welt dagegen als Konstruktion über je verschiedenen Unterscheidungen. Ihre Beschreibung ist infolgedessen nicht notwendig, sondern kontingent, und nicht mit Bezug auf die Natur richtig, sondern artifiziell. Sie ist selbst ein autopoietisches Produkt. Dabei wird (und darin liegt die autologische Komponente) die Differenz von notwendig/kontingent und von natürlich/artifiziell nochmals reflektiert und auf die Unterscheidung von Beobachtung erster Ordnung und Beobachtung zweiter Ordnung zurückgeführt. Die Ambition einer gemeinsamen Grundlage, eines Grundsymbols, eines Abschlussgedankens muss aufgegeben – bzw. den Philosophen überlassen werden. Die Soziologie findet, jedenfalls auf diesem Wege, nicht zu dem, was Hegel „Geist“ genannt hatte. Sie ist keine Geisteswissenschaft.


Im heutigen Kontext werden die damit angedeuteten Unterschiede hauptsächlich am Wertbegriff diskutiert. Es versteht sich von selbst, dass keine Wissenschaft auch nicht die Soziologie eine wertlose Kommunikation produzieren will; und zumindest in diesem Sinne gibt es keine „wertfreie“ Wissenschaft. Aber was sonst ist mit dieser Formulierung gemeint? Auch diese Frage klärt sich, wenn man Beobachten erster und Beobachten zweiter Ordnung unterscheidet.


Der Beobachter erster Ordnung beobachtet mit Hilfe von Werten. Seine jeweiligen Werte machen für ihn den Unterschied, der sein Erkennen und Handeln steuert. Der Beobachter zweiter Ordnung bezieht die Semantik der Werte auf ihre Verwendung in der Kommunikation. Er kann zum Beispiel erkennen, dass über die Bezugnahme auf Werte weder Entscheidungen abgeleitet noch Konflikte vermieden werden können. Vor allem aber sieht er, wie die Unbezweifelbarkeit der Werte in der Kommunikation produziert wird, nämlich dadurch, dass nicht direkt, nicht über sie, sondern mit ihnen kommuniziert wird. Man teilt ja nicht mit, dass man für Gerechtigkeit, Frieden, Gesundheit, Erhaltung der Umwelt usw. sei, um damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf diese Mitteilung mit Annahme oder mit Ablehnung zu reagieren; sondern man sagt nur, was man für gerecht und was man für ungerecht hält. Die Geltung des Wertes wird vorausgesetzt und hat allein in diesem Modus der Kommunikation ihre täglich erneuerte Unbezweifelbarkeit. (...)


Was die Soziologie zusätzlich tun kann, ist: die strukturellen Bedingungen für ihre Position als Beobachter zweiter Ordnung zu reflektieren. Sie liegen, wie leicht zu sehen in der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems (...) sie ermöglicht jedem Funktionssystem die Einrichtung einer eigenen Autopoiesis.


Zugleich wird die Position eliminiert, die als die „herrschende“ für alle sprechen konnte. Dadurch entsteht jener logische Strukturreichtum, der, wenn man ihn an traditionalen Erwartungen misst, als Relativismus oder als Pluralismus beschrieben wird. (...)


Das führt schließlich auf die Frage zurück, wie es in einem Kommunikationszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung zu Stabilitäten kommen kann. Während der Beobachter erster Ordnung voraussetzt, dass es eine geordnete Welt gibt, die eindeutige Merkmale hat, die man richtig oder falsch beschreiben kann, muss der Beobachter zweiter Ordnung auf diese logisch-ontologische Annahme verzichten. Er muss voraussetzen, dass die Welt diverses Beobachten toleriert, und zwar so, dass das, was sie bei unterschiedlichen Unterscheidungen zeigt, nicht immer als Irrtum der einen oder der anderen Beobachtung eliminiert werden kann. Legt man die allgemeine Theorie rekursiver Operationen zu Grunde, kann man dies Problem als Frage nach den „Eigenwerten“ des Systems formulieren.


Die relativ invariante Objektwelt und die Regelmäßigkeiten (Erwartbarkeiten) ihrer Variation werden nun beobachtbar als „Eigenwerte“ des Systems, das sie konstruiert. (...)


Für die Fortsetzung der Kommunikation: hierfür könnte der Übergang von Substanzbegriffen zu Funktionsbegriffen einen Anhaltspunkt bieten.

Man könnte formulieren: Die Funktion der Funktion ist die Funktion – um deutlich zu machen, dass es sich um eine Form handelt, die universell und also auch selbstreferentiell praktiziert werden kann. (...)


Es kann auch offen bleiben, ob die funktionale Betrachtungsweise „kritisch“ gemeint ist, das heißt hier: zur Ablehnung aufrufen soll, oder nicht. Dem Beobachter bleibt diese Einschätzung überlassen, sofern *er selbst* mit der Unterscheidung kritisch/affirmativ beobachten will.


Dieser Hinweis auf die Funktion der Funktion, Eigenwert zu sein in einem autopoietischen Funktionszusammenhang auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, ist exemplarisch zu verstehen. Exemplarisch und auch historisch. Es ist so gekommen.