Ethik zweiter Ordnung

Woran erkennt man einen Dogmatiker? An dem fast vollkommenen Fehlen von Selbstironie.


Vor ein paar Monaten habe ich versucht, eine systemtheoretische Fundierung (Letztbegründung) ethischer Prinzipien zu entwickeln (Zeitschrift für Systemische Therapie 23, S. 94ff) und anzubieten. Die Verwendung des Begriffs „Letztbegründung“ brachte mir eine Menge Kritik ein, weil er häufig so gelesen wurde, dass damit ein unbedingter Wahrheits- und Geltungsanspruch verbunden ist. (Natürlich hat doch jeder diese Haltung, dass die eigenen Aussagen absolut wahr und deshalb gültig sind, also von allen geteilt werden sollen, siehe weblog vom 06.09.2005).


Wenn es um Ethik geht, dann kommt man meines Erachtens nicht ohne den Versuch ihrer Letztbegründung aus. Was ja besagt, ethische Prinzipien auf eine gemeinsame Wurzel zurückzuführen, so dass universale ethische Prinzipien abgeleitet werden können, die ein größtmögliches Maß an Selbstevidenz aufweisen und deswegen von den meisten Menschen unmittelbar geteilt werden können. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass sie in Kommunikation kommen.


Ein solche Ethik basiert auf zwei Grundsätzen:


1. Das Seinsollen von etwas, d.h., die Bejahung des Seins und damit des Diesseits, des Irdischen, des Lebens und seiner Vielfalt.

2. Das bestimmende Referenzsystem, auf das sich ethisches Handeln bezieht, kann nur das umfassende Sein, also die gesamte Natur bzw. das Universum sein – kein System unter dieser Ebene und kein konstruiertes System über dieser Ebene.


An anderer Stelle habe ich bereits dargelegt, dass das individuelle Gewissen als systemisches Sinnesorgan fungiert, welches die Aufgabe hat, das Überleben des Trägers/der Trägerin des Gewissens – wenn nicht sicherzustellen so doch – wahrscheinlicher zu machen. Wird nun die Erde als Referenzsystem – d.h. als Zugehörigkeitssystem – gewählt, was im Zeitalter der Globalisierung legitim (und überlebensnotwendig) ist, und die Frage des Sein-Sollens und damit die Vielfalt des Lebens (das Leben in all seinen Erscheinungsformen) bejaht, erhalten wir eine andere Gewissenskonstitution als ein auf kleinere Zugehörigkeitssysteme beschränktes Gewissen. Es wird nämlich durch den globalen Bezug zu einem globalen Gewissen und damit zu einem Überlebens-Werkzeug, das uns schmerzlich darauf hinweist, wenn es den Eindruck gewinnt, dass wir durch unser (verantwortungsloses) Handeln die Lebensgrundlagen selbst und damit unsere Weiterexistenz bedrohen.


Ein solches – individuell erlebtes – globales Gewissen, definierte dann gut als ein Handeln, welches das Sein bejaht bzw. die Vielfalt des Lebens schützt, erhält und pflegt. Böse wäre dagegen ein Handeln, welches das Sein verneint bzw. die Vielfalt des Lebens bedroht, gefährdet oder zerstört.


Bei weiterem Nachdenken über die Grundlagen der Ethik bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass sie bereits einmal von der Mehrheit der Menschen vor langer Zeit – als wir noch als Jäger und Sammler durch die Gegend zogen – geteilt wurde, denn andernfalls hätte die Menschheit wohl kaum überlebt: Unmittelbar gab es Rückmeldungen von der Natur, ob das eigene Handeln dem Überleben dient oder nicht. Aus diesem Gründen gibt es eine doppelte Letztbegründung der Ethik: eine logisch-systemtheoretische und eine historische, die beide zu dem gleichen Ergebnis kommen.


Aufgrund der Kritik meines Letztbegründungsversuch der Ethik bin ich auf die Idee einer Ethik zweiter Ordnung gekommen, die man auch als ethische Metatheorie oder als ethisches Paradox bezeichnen könnte. Sie besagt, dass die Übernahme ethischer Grundsätze niemals mit Zwang oder Gewalt durchgesetzt werden darf, sondern die Autonomie der Menschen unbedingt wahren muss. Damit „heiligen“ die Mittel den Zweck – wie es auch sein sollte und nicht fatalerweise umgekehrt.


Das gilt selbst für folgende Konstruktion:

Angenommen, man könnte in verschiedene Zukünfte sehen und feststellen, dass es einer bestimmten Ethik bedarf, um das Überleben der Menschen zu gewährleisten und alle anderen Ethiken ins Verderben führten, dürfte man die Annahme dieser Ethik nicht erzwingen. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie dann ebenfalls scheitern und zum Untergang führen würde.