Erster Schultag

Erster Schultag.


Vor ein paar Wochen kam meine Enkelin in die Schule.

In der Waldorfschule wird dabei eine Art „Übergangsritual gemacht: Die ganze Schule ist in der Aula versammelt, eine höhere Klasse singt etwas, die 2. Klasse zeigt eine kleine Eurythmieaufführung, was die neuen Schülerchen ja überhaupt nicht verstehen, aber die Enkelin schaute trotzdem gespannt zu. Dann wir dauf dem Podium ein Stuhl-Halbkreis aufgebaut , und der Lehrer, der die Klasse übernimmt, kommt auf das Podium. Er nennt die Namen jedes einzelnen Kindes und gleichzeitig die einer älteren Schülerin oder eines Schülers, der zukünftig der Pate des Neuankömmlings ist. Die ganz Schule beklatscht sie. Der Pate nimmt sein Patenkind bei der Hand, führt es zu einem der Stühle und stellt sich dann hinter das Kind. Als die Klasse vollständig war – das ganze dauerte ungefähr eine Stunde – führt der Lehrer die Kinder in das Klassenzimmer zur ersten Schulstunde.

Die Enkelin ging an der Hand ihrer Patin an uns vorbei, ohne uns anzusehen. Da saßen ihre Mutter – meine Tochter – ihr Vater und Oma und Opa und versuchten einen Blick von ihr aufzufangen. Nichts dergleichen. Wie gebannt schaute sie geradeaus: nur ja nichts versäumen!

Es ist ja bekannt, dass man als Oma die Kinder ganz anders mitbekommt, als als Mutter. Aber vielleicht war meine Tochter, die neben mir saß, als Mutter doch noch ein Stück gerührter und erstaunter als ich.

Es fällt mir gar nicht leicht zu sagen, was mich daran so beeindruckt hat: das Kind war auf eine unerwartete Art verändert.

Einige Tage später hatte ich ein Telefongespräch mit ihr. Auf die Frage, wie es ihr gefällt: „Gut! – Ich hab auch schon einen Freund, der sitzt neben mir und heißt Stephan. Und eine Freundin, die wohnt ganz in der Nähe, bei der war ich auch schon zum spielen.“ „Und was macht ihr in der Schule? „Wir malen Striche und Kreise.“ „Das kannst du sicher, das ist ja nicht schwer.“ „Nein, aber gestern Abend hab ich geweint.“ „Oh je! Warum denn?“ „Weil ich nicht in die Schule gehen wollte am nächsten Tag. – Aber weißt du, da hätt ich ganz schön viel versäumt! Das darf man nämlich nicht, wie im Kindergarten, einfach mal wegbleiben.“ „Was hättest du denn versäumt?“ „Die Striche und Kreise. – Man muss auch „Hausigs“ machen.“

Meine Tochter erzählte mir später, dass sie an einem freien Tag, an dem sie noch mal in den Kindergarten gekonnt hätte, sagte: „Nein, jetzt geh ich nur noch in die Schule!“

Systemisch gesehen ist es ja der Übergang in ein neues System, dem man auf andere Art angehört als der Familie, das heißt, dass man auch wieder austreten kann, und nicht lebenslang daran gebunden bleibt, wie das beim Familiensystem der Fall ist. Und hier nun plötzlich der Eindruck, als fiele da etwas über dieses Leben, was mit dem Familienschicksal zu tun hat. Der „Ernst des Lebens“? – Was immer. – Wer das Glück hat kleine Kinder näher zu kennen erlebt das immer wieder: die Zeit, in der sich plötzlich etwas in dem Gesichtchen zeigt, das bisher nicht da war. Ich habe mich schon oft gefragt, wann ein Kind sozusagen „in seine familiären Verstrickungen hineinrutscht.“ Bei manchen hat man von Anfang an den Eindruck der Belastung, andere scheinen länger Zeit frei und plötzlich – wie etwa bei einer solchen Gelegenheit - fällt etwas Strenges, schon Festgelegtes über das Gesicht.

Helm Stierlin spricht „von einem „Bedürfnis nach Delegierung auf Seiten des Kindes“ , das in diesem Prozess zu seiner Identität findet.

Er meint wohl damit, dass sich die persönliche Biographie mit der Familiengeschichte notwendigerweise mischen, und dass beide Ebnen: die Biographische und die Ebene der Beziehungsordnung immer gleichzeitig vorhanden sind.