Erschütterung

Aus dem Internetbeitrag meines Mannes bei seiner Kehrwoche erfuhr ich, dass er den Tod seines Bruders mitgeteilt hat. Da unser trauriges derzeitiges Familiengeschehen nun bekannt ist, möchte ich etwas von meinen Erfahrungen schildern. Nicht nur in dieser Hinsicht ist es für mich spannend zu lesen, was mein Mann schreibt und ins Netz stellt, ohne dass ich zuvor weiss, was er schreiben wird.


Es hat mich tief erschüttert, einen Menschen, den ich kannte, tot und starr vor mir liegen zu sehen, noch den Schrecken seines Todeskampfes in Leib und Gesicht gegraben. Wir alle wissen, dass wir sterben werden. Wenn man real davor steht, besser, dabei steht, ist es wie eine andere Wirklichkeit, die einen kalt ergreift, die nicht wahr sein soll. Es war tröstlich, einige Tage später bei der Beerdigung sehen zu können, dass der Ausdruck des Schreckens wieder verschwunden war und er so aussah, wie ich ihn kannte. Viele Fragen tauchen auf: was ist das Wesentliche im Leben und wieweit lebe ich es jetzt? Gebe ich im Alltag der Liebe in meinen Beziehungen den Raum, den sie haben kann, so dass sie spürbar ist oder stehen die „wichtigen anderen Dinge“, Arbeit, keine Zeit usw. dazwischen? Das sind jetzt natürlich keine brandneuen Fragen, doch wenn überraschender Tod in die Familie einbricht, bekommen sie einen Ernst und werden unausweichliche Wirklichkeit.

Was wird sich in meinem Mann und in unserer Beziehung dadurch ändern? Werden vielleicht die unbewussten Familienkräfte, die im Schicksal meines Schwagers gewirkt haben, das, was er getragen hatte, jetzt auf die anderen Geschwister „verteilt“ oder darf das mit ihm zur Ruhe kommen? Oder wird das Wertvolle, was wir miteinander haben, noch mehr Kraft bekommen? Am Ende jeder Beziehung steht die Trennung. Wie kostbar ist die Zeit bis dahin!


Auf jeden Fall hat es eine Woche gebraucht, bis die Erschütterung, der Schock mit seiner Starre und Lähmung aus meinem Körper langsam wieder rausfliessen konnte und ich nicht mehr „irgendwie daneben“ war. Obwohl es nicht mein Bruder war, konnte ich mich diesen starken Reaktionen nicht entziehen. Welch konkrete Erfahrung, dass wir in Systemen leben und das Leid des einen das Leid des anderen wird, zumindestens hier zu einem kleinen Teil.


Um auch mal von den Dingen zu schreiben, die ausserhalb meiner Innenwelt stattfinden: Heute erfuhr ich in den Nachrichten, dass in Chile zum ersten Mal eine Frau der Mitte-Links-Partei, Michelle Bachelet zur Regierungspräsidentin gewählt wurde. Sie ist vierundfünfzig Jahre alt, war Kinderärztin, ihr Vater wurde unter Pinochet zu Tode gefoltert und auch sie selbst wurde gefoltert. Ich habe mich gefragt wie sie diese massiven Traumata wohl persönlich verarbeitet hat und wie sie wohl den Tätern in ihrem Land gegenüber tritt? Wird sie Rache wollen und Vergeltung oder wird sie den Ausgleich und die Versöhnung anstreben? Wird das, was sie proklamieren wird, kongruent zu dem sein, was sie tatsächlich tut und sich in den Wirkungen der Handlungen widerspiegeln? Es wird spannend sein, den weiteren Verlauf zu beobachten, soweit man es angesichts der zu uns kommenden Informationen überhaupt kann.


Jetzt werde ich in die Küche gehen, Essen kochen, mich auf das gemeinsame Essen freuen, wenn Hans hoffentlich nicht zu spät heimkommt. Es gibt Muschelnudeln mit Blattspinat in leichter Zitronensauce, mit Ziegenkäse überbacken, dazu Rohkostsalat. Liebe geht durch den Magen und gutes Essen wärmt das Herz und die Seele. Carpe diem!