Er-Ziehung

Heute Morgen ist die zehn jährige Anna zur Psychotherapie gekommen. Zur Zeit kommt sie nur noch alle zwei Monate. Als sie den Kindergarten besuchte, kam die Familie zum ersten Mal, weil Anna ausserhalb der Familie nicht sprach, nur mit grossem Theater und in Begleitung der Mutter den Kindergarten besuchte und sich dort am Geschehen kaum beteiligte. Seit Schulbeginn spricht sie in der Schule, absolviert seit zwei Jahren den Schulweg selbstständig und beteiligt sich am Unterricht seit einem Jahr. In letzter Zeit hat sie auch Freundinnen und Kameradinnen gefunden. Das war möglich dank dem grossen Einsatz von den Eltern, Lehrkräften, der Psychotherapie, Erziehungsberatung und der Mitarbeit Annas, die zu Beginn noch sehr widerstrebend war. Die differenzierten und engagierten Eltern haben zwei Kinder. Annas Bruder ist 14 jährig. Jedes der Kinder hat eine ganz eigene Persönlichkeit.


Die Mutter wirkt erschöpft. Sie habe den Eindruck, sie müsse ständig stossen, schubsen und ziehen: am Morgen brauche es viel, bis beide Kinder aufgestanden sind. Noch mehr Aufwand ist nötig, damit sie zeitig in die erste Stunde kommen. Nach der Schule kommt oft aus, dass das nötige Schulmaterial in der Schule geblieben ist. Die Aufgaben zu erledigen sei vor allem mit Anna, aber auch mit ihrem Bruder, sehr anstrengend. Bei früheren Elterngesprächen berichtete der Vater, dass auch er schubsen müsse. Er sei oft nicht sicher, wie weit das nötig sei und wann er es einfach „schleifen“ lassen könnte.

Anna und ihre Mutter sind nach Hause gegangen, Anna mit Strategien, wie sie sich motivieren kann, ihre Mutter, wie sie Anna mit weiteren Schritten selbstständiger machen kann.


Ich höre oft von Eltern, dass sie ständig am Schubsen und Ziehen sind. Es war wohl schon immer so, dass die meisten Kinder in der Schule vor allem die Pausen und das Turnen lieben. Zu Hause erledigen sie ihre kleinen Aufgaben im Haushalt, denen wir in der Schweiz „Ämtli“ sagen, meist recht ordentlich, wenn auch nicht besonders gern. Manchmal brauchen sie schon einen Schubs. Ich frage mich, was wohl dahinter stecken könnte.


Der acht jährige Leo, Einzelkind von gebildeten und differenzierten Eltern, braucht sehr lange für die Hausaufgaben und erfüllt auch in der Schule seine Aufgaben nicht in der vorgegebenen Zeit. Er verfügt über eine hohe Intelligenz. Beim Analysieren einer Aufgabensituation beschreibt er folgendes: Er sitzt am Pult, seine Hausaufgaben vor sich. Über seinem Kopf lastet eine graue schwere Wolke. Was ist da drin? Es „stinkt“ ihm so furchtbar. Die Wolke verdeckt ihm die Sicht und bremst ihn deshalb. Wenn er die Aufgaben erledigt hat, darf er nach draussen zu den anderen Kindern spielen gehen. Er öffnet in der Vorstellung das Fenster und schickt die Wolke nach draussen. Unterdessen erledigt er die Aufgaben. Zu Hause probiert er das auch. Das Erledigen der Hausaufgaben wird dadurch ein wenig besser.


Viele Kinder haben den Anspruch an ihre Tätigkeiten, dass sie ihnen gefallen. Damit ihnen etwas gefällt, muss es einen **hohen Unterhaltungswert** aufweisen. Schnell wird es langweilig. Gefällt ihnen etwas nicht oder nicht mehr, haben sie Mühe, irgendeinen guten Aspekt und Sinn in der Tätigkeit zu sehen. Der **Sinn** kann im günstigeren Fall etwas von der **Tätigkeit selbst** sein. Rechnungsaufgaben können beispielsweise wie Rätsel als eine spannende Herausforderung betrachtet werden oder beim Ausmisten des Hamsterkäfigs können sie ihren geliebten Hamster beobachten und etwas Gutes für ihn tun. Es kann aber auch etwas **Äusseres** wie bei Leo sein, der danach nach draussen darf. Das führt dazu, dass die Kinder Mühe haben, sich zu motivieren. Sie haben oft die Haltung, es sei Aufgabe der Eltern und Lehrkräfte oder Sporttrainer, sie zu motivieren, in Schwung zu bringen.


Dazu kommt, dass viele **Tätigkeiten zur Auswahl** stehen: Musik hören, telefonieren, Computerspiele, fernsehen, vielleicht auch lesen. All das lenkt die Kinder von notwendigen Aufgaben ab.


Für Erziehende ist es schwierig zu wissen, wann und wo sie **Grenzen** setzen sollen, wann sie etwas verlangen sollen. Auch das **Durchsetzen** von Anweisungen erweist sich häufig als schwierig. Lehrkräfte sind vielmals verunsichert, ob sie, wenn ein Schüler zu spät kommt, selbst eine **Konsequenz** folgen lassen oder einfach die Eltern informieren sollen. Manche Eltern sind auf einer ständigen Suche nach ihrem Erziehungsstil. Sie haben Hemmungen, sich durchzusetzen und wirken darum inkonsequent und unsicher. Das verunsichert Kinder und führt häufig dazu, dass sie Anweisungen nicht befolgen und kaum etwas ohne Probleme erledigen.


Manchen Eltern ist es nicht klar, dass sie, wenn sie etwas durchsetzen möchten, mit Schwierigkeiten rechnen und entsprechend präsent sein müssen. Das, was sie verlangen, muss überprüft werden. Dann kann das Kind in weiteren Schritten lernen, selbstständiger zu werden. Erst dann können die Eltern auch mehr Selbstverantwortung verlangen.


Er-Ziehung braucht auf diese Weise viel **Kraft**. Dabei gehen auch wertvolle Energien der Kinder verloren, die sie zum Meistern ihrer Entwicklungsaufgaben nutzen könnten.


Es geht um ein ständiges Ringen um das Gleichgewicht zwischen ziehen und lassen.


Das Gleichgewicht zwischen **Ziehen** und **Lassen** muss stets von Neuem gesucht und gefunden werden.