Entscheidungsprämissen/Unsicherheitsabsorption

Meines Erachtens sind etliche Konzepte der Organisationstheorie auch hilfreich, um politische Dynamiken zu erklären. Es geht ja auch bei der Entscheidung von Wählern in erster Linie um - wie es in der Organisationstheorie so wenig schön heißt - Unsicherheitsabsorption. Man weiss nicht, was die Zukunft bringt und man muss heute entscheiden, was dann dazu beiträgt, dass eine bestimmte Zukunft hervorgebracht wird... Mit anderen Worten: Man entscheidet sich heute für oder gegen eine erhoffte oder befürchtete Zukunft, was die Voraussagen dann zu selbsterfüllenden oder selbstverneinenden Prophezeiungen macht.


Um diese Unsicherheit zu reduzieren (woran soll man sich bei seinen Entscheidungen sonst halten?) lassen sich vier Typen von Entscheidungsprämissen nutzen:

1. Programme (die mehr oder weniger zwanghaft festlegen, was um ... zu ... oder wenn... dann ... zu tun ist).

2. Strukturen (seien sie formal oder informell, die bestimmen, wer mit wem worüber kommuniziert und wem etwas zu sagen oder wem zu folgen hat.

3. Personen (damit ist das öffentiche Bild eines Menschen gemeint, nicht seine Persönlichkeit oder sein Charakter, sondern sein Image).

4. Kultur (das sind seit langem tradierte Regeln der Kommunikation, die als selbstverständlich erlebt werden und deren sachliche Sinnhaftigkeit keine wesentliche Rolle spielt).


Wenn man diese Entscheidungsprämissen anschaut, dann werden Programme immer mehr in Frage gestellt ("Brüssel ist zu bürokratisch", Trump versucht das Rechtssystem in Frage zu stellen, usw.).


Auch Strukturen, zumindest die formalen politischer Entscheidungsfindung, werden kritisch beäugt (wie sich an den Rufen nach mehr basisdemokratischen Verfahren wie Volksentscheiden etc. zeigt).


Was nicht in Frage gestellt wird, ist die Hoffnung auf die Lösung aller Probleme durch Personen (d.h. die einen sind die falschen - "Merkel muss weg" - die anderen sind die richtigen - "Trump wird es richten").


Bleibt noch die Kultur (das heißt aber konkret nur, dass man weiss, welche Kultur man nicht will: Muslime, Scharia, usw. - die Beschwörung von Heimat gehört für mich auch in diese Kiste).


Ich denke, man muss als Teilnehmer an einem sozialen System (d.h. nicht nur der deutschen oder österreichischen oder schweizer Gesellschaft, sondern der Weltgesellscchaft) alle vier Ebenen reflektieren und in ihrer Sinnhaftigkeit überprüfen.


Letztlich wäre ein Weltstaat mit einem Gewaltmonopol natürlich die Lösung für das Problem von Kriegen bzw. die zivilisierte Lösung von Konflikte. Korea könnte sich bei einem internationalen Gerichtshof über Beleidigungen des amerikanischen Präsidenten beklagen, Afrika eine faire Bezahlung von Rohstoffen oder auch einen Finanzausgleich (à la Bayern/Berlin) fordern usw. Doch das werden wir alle wahrscheinich nur erleben, wenn ein Angriff von Außerirdischen erfolgt. Denn bis dahin, werden diejenigen, die bislang die Macht haben und den Gewinn aus der aktuellen Weltordnung ziehen, sich mit Händen und Füßen (vor allem aber mit den modernsten Waffen) gegen deren Veränderung wehren.


Der Blick auf die bevorzugten Entscheidungsprämissen zeigt m.E. wie im Moment gerade von den Bürgern gedacht und gehandelt wird. Putinversteher wie Trumpfans folgen - das ist natürlich nur meine private Meinung - einem zu schlichten Weltbild, indem sie nicht die Komplexität der Wechselbeziehung zwischen diesen vier Typen von Entscheidungsprämissen sehen. Auch die Separatisten, seien sie nun in Katalonien oder England, versuchen mit der Herstellung einer kleinen, vermeintlich überschaubaren und kontrollierbaren Einheit (=Nation) eine Autonomie zu erreichen, die angesichts der Auflösung der Grenzen nicht mehr wirklich erreichbar ist. Wer (zu recht) beklagt, dass die EU in erster LInie den großen Konzernen gedient hat, der muss nicht die EU bekämpfen, sondern darum kämpfen (politisch), dass sich deren Programme und Strukturen so verändern, dass die Regionen über das entscheiden können, was für die Regionen wichtig ist, ohne dass Europa weltweit in Kleinstaaterei zu völliger Einflusslosigkeit verkümmert.