Einer meiner schönsten Kriege

Teil eines Kapitels aus dem Manuskript "Liebe Deutsche"


(aus der Feder von Olaf Baum, eines Enkels von Otty Baume, der die Veröffentlichung hier autorisiert hat)


„Einer meiner schönsten Kriege übrigens, der Zweite Weltkrieg.“ - Dieser Satz, geäußert von Jochen, ist an Authentizität kaum zu überbieten, so viele Sätze ich bisher gehört habe. Jochen ist ein achtunddreißiger Jahrgang, und er ist vielleicht der einzige Mensch, dem ich so ziemlich alles glaube, was er mir erzählt. Selbst Witze erzählt er in einer Weise, dass man glauben könnte, er habe diese Situationen, die in der Pointe münden, selbst erlebt. Möglicherweise sind es sein Lachen, eher ein Sesamstraßen-Ernie-Kichern, und seine feuchten, manchmal tränenden, immer freundlichen Augen, die das bei mir bewirken. Übrigens könnte Jochen anderntags genauso authentisch das Gegenteil sagen, ohne sich wirklich zu widersprechen. Fast regelmäßtig verleite ich mich dazu, aus seinen Erzählungen Wahrheiten oder großspurige, zum Beispiel psychologische Theorien abzuleiten und auszusprechen, womit ich wiederum Jochen verleite, sie wie beiläufig oder spielerisch zerbröseln zu lassen.


Wir sitzen in wechselnden größeren Abständen beisammen im Goldenen Lamm, einem gemeinsamen Stammlokal – das würde er womöglich so auch nicht unterschreiben -, und eigentlich ist mir immer am liebsten, wenn er spricht und ich nur zuhöre. Natürlich erzähle ich auch zuweilen etwas, aber da ich zweiundzwanzig Jahre jünger bin als Jochen - daher kein Achtundsechziger, was er durchaus hätte werden können, rein zeitmäßig jetzt -, entwickeln sich unsere Gespräche beinahe zwangsläufig so, dass er mehr als drei Viertel der Redezeit erhält. Es sieht, wenn er mir zuhört, auch häufig so aus, als sei sein Interesse eher diplomatischer Art, begleitet von einem wie automatischen Nicken des tief in den Schultern sitzenden Kopfes und einem sächsich rasselnden „mhmm“. Im Trinken halten wir uns aber durchaus die Waage, meistens Bier, seltener mal ein paar Viertel Wein, die zusammengenommen ein vielfaches Ganzes ausmachen können.


Wir haben auch schon Wetten abgeschlossen. Die Berliner U-Bahn-Scheiben-Wette habe ich gewonnen. „Du kannst egal mit welcher Linie fahren, du wirst keine Scheibe finden, die nicht mutwillig verkratzt oder verschmiert ist. Das hat mich, als ich unlängst wieder in Berlin gewesen bin, wirklich geärgert. Das´s ne Rücksichtslosigkeit.“ Hatte er erzählt. Und es hatte sich mit meinen Wahrnehmungen bei meinen vielen Berlin-Besuchen getroffen. Bis ich, es war vielleicht vor zwei Jahren, zurückkam und berichten konnte, durch eine Scheibe geguckt zu haben, die völlig frei von Kratzern oder sonstigen Schädigungen war. Ein Fahrer der U15 hatte mich offenbar ratlos vor den neuen elektronischen Informationstafeln stehen sehen und gefragt, wo ich hin wolle. „Uhlandstraße“, hatte ich geantwortet. „Na, da fahre ick hin, steing´Se in.“ Die Türen der Fahrgasträume waren und blieben aber verschlossen. „Komm´Se“, lud er mich erneut ein und zeigte auf die geöffnete Tür des Fahrerhauses. Und da saß ich nun vor einer großen, unversehrten Scheibe und fuhr die zwei Stationen bis zum U-Bahnhof Uhlandstraße neben dem Fahrer, der mir wie nebenbei noch einiges von Selbstmördern und Tarifstreitigkeiten erzählte. Sofort dachte ich an Jochen und unsere Wette. Er quittierte meinen Bericht, als ich wieder im Lamm am Stammtisch ihm gegenüber saß, mit „mhmm“ und dem Jochen-Nicken.


Wie bei anderen Menschen auch, und das trifft auch auf mich selbst zu, kann ich mir Jochen, wenn er von seiner Kinderzeit erzählt, nur so vorstellen, wie er jetzt aussieht. Ich kenne ihn nur mit weißem Haar. Als junger Mann muß sein Schopf tiefschwarz gewesen sein, behauptet er wenigstens. Änderte es etwas, wenn ich wüßte, wie er als Kind „wirklich“ aussah? Beim Schwimmen in den Bombentrichtern der XXX-Straße in Leipzig? „Einer meiner schönsten Kriege übrigens, der Zweite Weltkrieg. Wir hatten, durch die drei in einer exakten Reihe hintereinanderliegenden Bombentrichter unserer Straße, drei Schwimmbecken, kostenlos, versteht sich. Das war himmlisch für mich, nich. Ich konnte baden gehen in einer Zeit, als es bei uns kein öffentliches Schwimmbad gab sonst. Und das noch zur Schulzeit. Da war ich dankbar für. Wenn die Bomberverbände im Anflug waren, gab´s natürlich Alarm, nich. Und da fiel der Unterricht aus. Und die Schaffner in der Straßenbahn kontrollierten dann natürlich auch nicht mehr; das Fahrgeld, das mir meine Mutter gegeben hatte, gehörte damit mir. Die saß ja schon im Keller mit der Gasmaske auf. Eine häßliche Mutter habe ich oft gehabt, wie sie da so vor mir saß mit der Maske auf´m Gesicht - .“ Und er kichert dazu wie eine Gummihexe oder eine Handpuppe, der Kopf zuckelt in seinem Schulterbett rauf und runter, und alle, die mit mir und Jochen am Tisch sitzen, lachen mit.


Wir sind selten allein am Stammtisch, aber wenn wir einmal allein sind, gefällt es mir am meisten. Kein anderer fühlt sich bemüßigt, selbst etwas zum besten zu geben. Der Vorteil, wenn andere dabei sind, ist der, daß Jochen angeregt wird, ihm noch etwas einfällt. Zum Beispiel die Geschichte seiner Auseinandersetzung mit seinem Vater, dem er gesagt hatte, er, Jochen, werde einst ein eigenes Radio haben. „Da bekam ich eine gefeecht. Aber Recht behalten habe ich. Das konnte sich mein alter Herr natürlich überhaupt nich vorstellen, daß er, geschweige denn ich ein eigenes Radio besitzen würde, zweiundfünzig. Und dann hab ich rübergemacht später und hatte mein Radio binnen kürzester Zeit.“


Sein Besuch eines Friedhofs in Süddeutschland für alliierte Bomberpiloten des zweiten Weltkrieges - "Keiner über dreissich, die meisten grade ma zwanzich" - habe ihn besonders erschüttert, erzählte er kürzlich. Da lachte er nicht. Sah aber selbst da eher neugierig aus, wie ich das wohl aufnehme. Jochen spielt nicht.


Jochen empfiehlt übrigens neuerdings, wieder mal Karl Marx zu lesen. Er mußte das früher tun, weit mehr und öfter, als ihm damals lieb war, sagt er. Aber ich vertraue ihm halt, wie gesagt. Und wenn er was empfiehlt, probiere ich´s meistens aus. Meine Oma Otty Baume hat mir einst das Buch "Carl Auer - Geist or Ghost" in die Hand gedrückt, das sie von Jochen empfohlen bekommen habe. Habe nie mehr über konstruktives Ideieren gelernt als durch dieses Buch; besonders durch Paul Watzlawicks Beitrag. Jochen will sich nicht mehr daran erinnern, dieses Buch empfohlen zu haben. Was mich aber nicht wundert. - "Carl Auer? Kenne den Kerl gar nich." - Jochen pur.