Eine etwas andere Problem- und Verhaltensanalyse

Als Psychotherapeutin muss ich Krankenkassenanträge schreiben, als Supervisorin und Dozentin an unserem (exzellenten !) "Zentrum für Psychologische Psychotherapie" solche lesen, und als Hochschullehrerin muss ich ebenfalls die Hausarbeiten und Klausuren der Studierenden lesen, die das Erstellen einer solchen Problemanalyse zum Gegenstand haben.


Hier mal eine etwas andere Version:


1. *Angaben zur spontan berichteten Symptomatik:*

"Es war ein besonders schwer und exemplarisch ausgebildetes Stottern, dem er unterlag, - tragisch, weil er ein Mann von großem drängendem Gedankenreichtum war, der mitteilenden Rede leidenschaftlich zugetan. Auch glitt sein Schifflein streckenweise geschwind und tänzelnd, mit der unheimlichen Leichtigkeit, die das Leiden verleugnen und in Vergessenheit bringen möchte, auf den Wassern dahin; aber unfehlbar von Zeit zu Zeit, mit Recht von jedermann fortwährend gewärtigt, kam der Augenblick des Auffahrens, und auf die Folter gespannt, mit rot anschwellendem Gesicht, stand er da: sei es, daß ein Zischlaut ihn hemmte, den er mit in die Breite gezerrtem Munde, das Geräusch einer dampflassenden Lokomotive nachahmend, aushielt, oder daß im Ringen mit einem Labiallaut seine Wangen sich aufblähten, seine Lippen sich im platzenden Schnellfeuer kurzer, lautloser Explosionen ergingen; oder endlich auch einfach, daß plötzlich seine Atmung in heillos hapernde Unordnung geriet und er trichterförmigen Mundes nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen - mit den gefeuchteten Augen dazu lachend, das ist wahr, er selbst schien die Sache heiter zu nehmen, aber nicht für jedermann war das ein Trost ...."

2. *Lebensgeschichtliche Entwicklung*

"W.K. damals noch jung, höchstens zweite Hälfte Zwanzig, war von deutsch-amerikanischen Eltern im Staate Pennsylvania gebürtig und hatte seine musikalische Ausbildung im Lande seiner Herkunft empfangen. Aber zeitig schon hatte es ihn in die alte Welt, von wo seine Großeltern einst ausgewandert, und wo, wie seine eigenen, so auch die Wurzeln seiner Kunst lagen, zurückgezogen, und er war im Zuge eines Wanderlebens, dessen Stationen und Aufenthalte selten länger als ein bis zwei Jahre dauerten, als Organist zu uns nach Kaisersaschern gekommen, - es war nur eine Episode , denen andere vorangegangen waren .... und denen weitere folgen sollten.....

Von einem unscheinbaren Äußeren, ein untersetzter Mann mit Rundschädel, einem gestutzen Schnurrbärtchen und gern lachenden, braunen Augen von bald sinnendem, bald springendem Blick, hätte er für das geistige, kulturelle Leben von Kaisersaschern einen wahren Gewinn bedeuten können, wenn eben ein solches Leben überhaupt vorhanden gewesen wäre. "

3. *Verhaltensanalyse*

"Worüber er sprach? Nun, der Mann war imstande, eine ganze Stunde der Frage zu widmen, "warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe"... [Aber] man wollte schlechterdings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe. ... Jedoch lernten wir sie [die Sonate] durch diese Veranstaltung ... kennen, und zwar sehr genau, da K. sie auf dem recht minderen Piano, das ihm zur Verfügung stand, .... vortrefflich, wenn auch mit schollerndem Klange, zu Gehör brachte, zwischendurch aber ihren seelischen Inhalt, mit Beschreibungen der Lebensumstände, unter denen sie - nebst zwei anderen - verfaßt worden, mit großer Eindringlichkeit analysierte und sich mit kaustischem Witz über des Meisters eigene Erklärung erging, warum er auf einen dritten, mit dem ersten korrespondierenden Satz hier verzichtet habe. ....

Und dann setzte er sich ans Klavier und spielte uns aus dem Kopf die ganze Komposition, den ersten und den ungeheuren zweiten Satz in der Weise vor, dass er seine Kommentare beständig in das eigene Spiel hineinrief und, um uns auf die Führung recht aufmerksam zu machen, zwischendurch begeisterungsvoll-demonstrativ mitsang, was alles zusammen einen teilweise hinreißenden, teilweise komischen und von dem kleinen Auditorium widerholt auch mit Heiterkeit aufgenommenen Spektakel ergab. Denn da er einen sehr starken Anschlag hatte und im Forte gewaltig auftrug, musste er überlaut schreien, um seine Zwischenreden halbwegs verständlich zu machen, und mit höchstem Stimmaufwand singen, um das Vorgeführte noch vokal zu unterstreichen. Mit dem Munde ahmte er nach, was die Hände spielten. Bum, bum - Wum, wum - Schrum, schrum, machte er bei den grimmig auffahrenden Anfangsakzenten des ersten Satzes und sang in der hohen Fistel die Passagen melodischer Lieblichkeit mit, von denen der zerwühlte Sturmhimmel des Stücks zuweilen wie von zarten Lichtblicken erhellt ist. ..."


Zum Weiteren, d.h. zu allen prognostischen Überlegungen siehe das Original, das, wie sicherlich bereits bemerkt wurde, der "Doktor Faustus" von Thomas Mann ist. Für mich gehört Wendell Kretzschmar, von dem ich hier mit den Augen der Verhaltenstherapeutin kurz berichtet habe, zu den liebenswertesten und beeindruckendsten Menschen der (Welt-)Literatur. Ich hätte viel darum gegeben, ihn persönlich kennen zu lernen.