Ein Jahr Jammerpause ...

in Deutschland. So lautet der Neujahrswunsch von Thomas Kerstan in der ZEIT 1/2006 als Wunsch Nr. 12 unter 99 anderen guten „Wünschen zur Rettung der Welt“. Herr Kerstan ist der Herr der „Chancen“ bei der ZEIT. Er weiß bestimmt, wovon er redet, wenn er uns allen so etwas wünscht. Er ist quasi zuständig für die optimistische Sicht der Gegenwart und Zukunft, für neue positive Entwicklungen und das Aufspüren von Beispielen in Schulen und Hochschulen, die dafür stehen können: Seht her, es klappt! Ich trete ihm zur Seite und stimme mit ein: „Ein Jahr Jammerpause in Deutschland.“ Mit einem Augenzwinkern natürlich; denn Bierernst verträgt sowieso kein Neujahrswunsch. Er muss sich leicht und frei anfühlen. Und Recht hat er.


Ich beschließe, ab sofort auf Anzeichen der aufkeimenden Jammerpause zu achten, schaue die Nachrichten und Reportagen, lese die Zeitung mit dem Blick für Jammerpausen. Zum Beispiel: Prompt erholt sich der Arbeitsmarkt. Viel geringere Zunahme der Arbeitslosenzahlen im Dezember als sonst üblich. Michael Opoczynski entdeckt in der Heute-Sendung des ZDF (3.1.06) „einen Arbeitsmarkt, der zu Optimismus Anlass gibt.“ Und im Sport zeigt ein Fan des 1. FC Köln gar ein Plakat mit der Aufschrift: „Der Messias ist da!“ Gemeint war der neue Trainer, der Schweizer Hans-Peter Latour, der prompt erklärte: „Die Kölner müssen verrückt geworden sein, sonst hätten sie nicht noch einen Schweizer engagiert!“ Besser leicht verrückt sein als jammern über den miserablen Tabellenstand, denke ich. Die Kölner Jecken fangen rechtzeitig vor dem endgültigen Ausbruch des Karnevals an mit der Konstruktion ihres Erfolges.


Vielleicht ist das Ganze ja auch eine Frage von Stil und Sichtweise. Schließlich spielen die Medien eine wichtige Rolle dabei, ob man einen Grund zum Jammern sieht oder nicht. In der Tagesschau werden die gleichen Daten vom Arbeitsmarkt auch vermittelt, aber weitaus gedämpfter, um nicht zu sagen: näher am Jammer.


***Noch ein guter Vorsatz: Jammerpause***


Also noch ein guter Vorsatz für das neue Jahr: Ich achte auf das Wie der Darstellung von Problemen. Auch bei mir selbst. Die Jammerpause kommt ja nur dadurch in Fahrt, dass viele Menschen eine solche machen. Dabei denke ich an eine Erkenntnis des amerikanischen Pädagogen Lynn Dhority: #„Worum wir uns auch immer kümmern, seien es Möglichkeiten oder Probleme, alles wird umso größer, je mehr wir uns damit beschäftigen.“# Wer nach Möglichkeiten sucht, jammert nicht. Er hat die Sensoren auf Zukunftskonstruktion eingestellt. Jammerpause, das ist doch ein ausgezeichneter guter Vorsatz für Konstruktivisten aller Art. Und dann dazu so ein starkes Motto: Ein guter Satz für die Jammerpause. Jedenfalls für mich. Für wen noch? Oder für wen auf keinen Fall? Geben Sie sich bitte gerne zu erkennen! Schließlich ist der bewusste Verzicht auf das Jammern ganz allgemein gut. Man sieht plötzlich die Welt mit anderen Augen. Was heißt hier „man“? Ich jedenfalls. Und Sie? Wenn genug Leute eine Jammerpause machen, dann zeigt das Depressionsbarometer gewiss bald steigende Gesundheit und Wohlbefinden an. Sie sollten sich einfach anschließen. Nicht meinetwegen, sondern um Ihrer selbst willen.


Herzlichst, Horst Kasper