Ein Boxkampf über mehrere Runden

Haben Sie schon mal den Begriff „Solidarische Ökonomie“ gehört? Immerhin – Brasilien hat seit vier Jahren ein Staatssekretariat dafür. Kooperation statt Konkurrenz heißt die Devise. Alle, die am Unternehmen beteiligt sind, arbeiten im Unternehmen. Und alle, die im Unternehmen arbeiten, sind oder werden – nach einer Probephase – daran beteiligt. Und bei wichtigen Entscheidungen haben jeder und jede eine Stimme.


Klingt utopisch in unseren Ohren. Abgestandener sozialistischer Kaffee. Wie soll das funktionieren? Ineffizient, innovationsfeindlich. Wir haben doch das Ende der Geschichte erreicht – die kapitalistische Marktwirtschaft, eingebettet in die westliche Demokratie als ultimative Gesellschaftsform.

Paul Singer, Leiter des besagten Staatssekretariats, Professor für Ökonomie mit einer Lebensgeschichte von kindlicher Flucht vor den Nazis über die Organisation von Widerstandsdenken in der brasilianischen Militärdiktatur bis zur Unterstützung des ersten Arbeiterpräsidenten des Landes, erklärte mir seine Motivation, warum er dennoch nach Alternativen suche, mit einem Bild: „Kapitalismus ist wie ein Boxkampf über mehrere Runden. Und aus jeder Runde geht der Stärkere gestärkt und der Schwächere geschwächt hervor.“ Ist wohl kein Zufall, dass Konkurrenz und Konkurs auf denselben Wortstamm zurückgehen – die Rivalen laufen so lange zusammen = gegeneinander, bis dann bei einem die Gläubiger zusammenlaufen, um die Konkursmasse aufzuteilen.


Mich beschäftigt seit dem Gespräch mit Paul Singer das Paradoxon, dass wir, soweit ich unseren europäischen Diskurs kenne, Demokratie in der Politik als obersten Wert deklarieren und wir gleichzeitig in wirtschaftlichen Organisationen autoritäre Strukturen für das einzig sinnvolle Prinzip halten. Vor kurzem gab es einen Bericht über den Aufkauf eines Pharmakonzerns durch einen anderen. Der Reporter versuchte Statements von Angestellten zu erhalten – aussichtslos: „Lassen Sie uns in Ruhe.“ „Kein Kommentar.“ – „Wie früher im Ostblock.“ stellte mein Freund fest.


Die Unternehmen der Solidarischen Ökonomie in Brasilien entstehen zumeist aus kollektiver Not: Entweder schließen sich Kleingewerbe-Treibende oder schattenwirtschaftende Familien zu genossenschaftsartigen Kollektiven zusammen, um so besser zu überleben. Oder große Industrieunternehmen, die konkursreif sind, werden von den Mitarbeitern übernommen und weitergeführt. Kollektive Entscheidungsprozesse haben sie in den Gewerkschaften gelernt – und die meisten Unternehmen arbeiten erfolgreich. Sie unterstützen einander und sind auch am Markt überlebensfähig.


Bemerkenswert ist jedenfalls, dass hier experimentiert wird, dass nach Alternativen gesucht wird, dass neue Formen von Organisation und Entscheidungsprozessen ausprobiert werden – in der Wirtschaft und in der Politik. In Porto Alegre, einer Stadt so groß wie Wien, erprobte die Arbeiterpartei über 10 Jahre lang neue Formen der Budgetmitbestimmung – alle betroffenen Bewohner konnten in einem gemeinsamen Entscheidungsprozess über das „Partizipative Budget“ mitbestimmen, wo die öffentlichen Gelder investiert werden. Mittlerweile wird das Experiment in vielen Kommunen weltweit kopiert; in Porto Alegre hat es den Wechsel zu einer konservativen Regierung vorläufig nicht überlebt.