D.R. und A.T.

Dieter Roth trifft André Thomkins in der Kehrwoche. Beide Künstler, beide 1930 geboren (einer in Hannover, der andere in Luzern), beide schon gestorben (der eine 1998, der andere 1985), zu Lebzeiten befreundet.


Dieter Roth, ein energievolles Urgestein experimentierte mit der Vergänglichkeit, verwendete verderbliche Materialien, Lebensmittel war ein Meister Schimmelpilzes und ein Experimentator des Zerfalls: Der „Große Sonnenuntergang“ (1968, Pressung, Käse auf Sandpapier in Plastiktasche eingeschweißt) ist derzeit in Hannover ausgestellt. Es ist ein Exponat einer Ausstellung, die um seine Beziehung zu der Künstlerin Dorothy Iannone kreist. Dorothy Iannones Bilder hatten in den 60er und 70er Jahren Skandale ausgelöst, waren als Pornografie verboten worden, wurden überklebt. Die Ausstellung zeigt nun die Kommunikation der beiden über Bilder, Karten, Gedichte, eine eindrucksvoll illustrierte Beziehungsgeschichte: „mich selbst küssend, was bedeutet: dich küssend, was bedeutet: mich zeichnend, was bedeutet dich zeichnend“ (D.R.) „Let me sqeeze your fat cunt and I am your first woman“ (D.I.)


Und André Thomkins? Ein feiner, ein genauer Mensch, der filigrane, symbolträchtige Zeichnungen, Skulpturen, Grafiken etc. hinterließ. Ein Meister der Sprache („er dachte sich zum Docht“), der Anagramme und der Palindrome (PLANETOIDIDIOTENALP. STRATEGY : GET ARTS. DOGMA : I AM GOD. OH! CET ECHO. NEE, DIE IDEEN), der im Nebensächlichsten Bedeutungen fand, für den Kunst eine Sprache war, mit tiefgründigem Humor (z.B. sein „Zahnschutz gegen Gummiparagraphen“, 1969). Ich durfte ihn noch gut kennenlernen.


Ausgelöst durch die Ausstellung Roth/ Iannone war plötzlich wieder eine Szene präsent, die ich Ende der 70er Jahre erlebt hatte und die immer mal wieder wie ein Traumszenario aus den Tiefen meiner Speicher auftaucht. Dieter Roth und André Thomkins waren zusammen mit anderen Künstlern in einem Hamburger Fabrikgebäude auf der Bühne einer Performance („Selten gehörte Musik“ o.ä.): Dieter Roth mit wuchtigen Schlägen auf alle möglichen Gegenstände einschlagend, Höllenlärm, Farbe spritzte, Andre Thomkins Verse zitierend, sich am Klavier austobend, um sie beide herum Tohuwabo. Das Publikum eine unglaubliche Mischung von abgerissenen Freaks und Hamburger Schickeria. Beim Blick aus dem Fenster in den Innenhof bewegte sich einige Stockwerke tiefer ein großer Dreimaster in ständigem auf und ab, scheinbar von Wellen getragen, Matrosen kletterten durch die Takelage – offenbar eine laufende Filmproduktion. Plötzlich waren nirgendwo mehr vertraute Szenen, nichts passte zueinander, es gab keine zuverlässigen Eckpunkte der Orientierung. Alles war möglich. Alle Wahrnehmungskanäle wurden bis auf das Äußerste beansprucht. Selten hat mich etwas so verunsichert und gleichermaßen fasziniert, an der Schwelle des „Abdrehens“. Und mir ist dieses Szenario als unglaublich energievoll erschienen und in Erinnerung geblieben, als Zusammenfluss der Unterschiedlichkeiten von D.R und A.T. in einem für mich surrealen Rahmen (das Psychodrama Morenos kennt den schönen Begriff der surplus reality). Die Kraft, die aus den Gegensätzen stammt, das Ver-rückte, das nicht zusammenpasst und kraftvolle Suchbewegungen auslöst, der Spannungsbogen zwischen Durcheinanderwirbeln und Ordnen.... solche Spannungsbögen verdichten sichfür mich in dieser Szene.


Und wer es bis hier noch nicht ahnte: das ist natürlich auch der Spannungsbogen meiner Großväter, die auch noch D.R. und A.T. ähnlich sahen. Aber das habe ich lange auch nicht bemerkt, bis mir auffiel, dass D.R. und mein Großvater Hugo schon viele Jahre an der Wand meines Arbeitszimmers nebeneinander verbracht hatten. Ich hoffe, sie hatten und haben Spaß miteinander – oder sind sie sich zu ähnlich? Aber da war dann doch auch wieder dieses merkwürdige Gefühl, wohl arg von den „frühen“ Erfahrungen geprägt zu sein: bin ich noch Herr im Hause und wenn ja, wer und wie viele? Da bereitet uns die neurobiologische Forschung ja derzeit auf Ergebnisse vor, die gerade diese Frage noch einmal völlig neu ausloten werden. Nutzen wir also die verbliebenen Handlungsräume, erfahrungsgemäß reichen sie ja ohnehin aus. Und solange mich meine bewussten und unbewussten Geschichten in solche kreativen Gefilde führen, will ich mich nicht beschweren.


Nun sollen Dieter Roth und André Thomkins auf der Bühne der Kehrwoche miteinander stehen und agieren und in den Köpfen der Leser dieses furiose Feuerwerk entfachen, das ich erleben durfte.