Diskussionskultur oder: Komische Welt der Vernunft

In den vergangenen Tagen spielte die Musik, als Beispiel immer auch für anderes, eine Rolle. Wir verlassen heute das uns so durchdringende und in Schwingung setzende Phänomen und beschäftigen uns damit, welche Rolle die Logik, die Vernunft für uns in der Regel so spielt. Mit anderen Worten: es menschelt sehr!!!


Stolz ist unsere Kultur auf die Leistungen der Vernunft. Entscheidungen im gesellschaftlichen Leben sind so nicht nach Gutdünken gefällt, sondern man wägt Argumente. Und nach hinreichendem Wägen wird für den einen oder eben für den anderen Fall entschieden, möglicherweise kommt ein dritter sogar in Frage. So zumindest sehen wir uns ganz gerne, kopfgesteuert bei wesentlichen Entscheidungsfällen im Leben, den Bauch außen vor lassend. Kleine Einschränkung: Natürlich sind bei dieser Aussage Liebesentscheidungen nicht gemeint, das Bauchgefühl bleibt da mit seinem Wirken die einzig vernünftige Entscheidungsgrundlage. Aber jenseits aller Liebeswelten, wo die harten Fakten ihre Rolle spielen, zeigt man sich gerne der logisch waltenden Vernunft gewogen. Immerhin sucht man ja zu überzeugen, den anderen für kleinere und größere Dinge im Leben für sich zu gewinnen: Brauchen wir bspw. den Wagen mit 200 PS und mehr, der von 0 auf 100 in 5 Sekunden es schafft, tatsächlich?; da wollen einem schon verdammt gute Gründe einfallen. Wer ein solches Ding unbedingt haben will, dem es sozusagen ein - natürlich ganz aus Vernunftgründen geborenes - Herzensanliegen ist, dem werden - da bin ich sicher - auch zahlreiche gute Gründe einfallen, um den Partner zu überzeugen, wieso die waltenden Kräfte unter der Motorhaube ein gewisses Maß beim Ampelstart und anderswo nicht unterschreiten dürfen.


Spielen wir die Argumentation in verknappter Form mal durch. Da gibt es jemanden, der ein solches Geschoss unbedingt haben will. Dessen "Schatz", den wir gleich noch näher kennen lernen werden, ist davon gar nicht begeistert. Da wir uns nicht mehr in Zeiten befinden, wo man sagt: "Wir kaufen das Ding. Punkt!", sondern in Zeiten, wo man gemeinsam die Entscheidungen fällt, muss Überzeugungsarbeit geleistet werden: "Du Schatz, der Wagen, den ich ins Auge genommen habe, hat eine viel bessere Verarbeitung, als unser alter. Und sollte tatsächlich mal ein Unfall - Gott behüte - passieren, ist die Knautschzone viel großzügiger gewählt. Und sieh mal, die ganzen Airbags. Alles inclusive." Der Schatz ist noch überzeugt und meint: "Sollten wir das viele Geld nicht lieber sparen und in eine größere Wohnung stecken? Hier platzt doch alles aus den Nähten!" Stille tritt ein. Bekundetes völliges Unverständnis bei jemand. Dann nach einer Pause: "Hör mal Schatz, der Wagen hat speziell auf die Sitze abgestimmte Kindersitze, Und die lassen sich mir nichts, dir nichts einbauen. Ich finde, für die gebotene Sicherheit ist der Wagen regelrecht günstig zu nennen. Und ich meine, das sollte uns die Sicherheit unserer Kinder schon wert sein. Wie siehst du das?" --- Kurze Zeit später. Unser jemand steht an der Ampel in seinem neuen Wagen und überlegt, ob man von 0 auf hundert den Wagen nicht auch unter 5 Sekunden drücken kann, während Schatz beim Anfahren energisch in die passgenauen Schalensitze gepresst wird und den Eindruck nicht loswird, dass da irgendwas komisch gelaufen ist. Schatz tastet vorsichtig in Richtung Armaturenbrett, wo sie die vielen Airbags vermutet. Sie schafft es nicht ganz, die Fliehkräfte wirken zu stark. Sie seufzt und gibt auf. Lieber Leser. Keine Sorge um die Kinder: Die sind bei Oma und Opa. (Aus Gründen der politcal correctness habe ich darauf verzichtet, die Leerstellen "jemand" und "Schatz" irgendeinem Geschlecht zuzuordnen. Das sei Ihnen und Ihrer Phantasie oder Erfahrung überlassen.)

Selbstverständlich ist eine solcher Hergang in den Partnerschaften, die wir kennen oder in denen wir selber stehen, völlig ausgeschlossen. Aber hier und da, so hört man/frau, soll es so was geben. Das, was hier am kleinen Beispiel aus dem zwischenmenschlichen Privatbereich am deutschen Kultobjekt Auto vorgeführt wurde, gilt aber auch auf anderen Ebenen des Lebens: in der Schule, im Beruf, in der Politik! Nehmen wir den letztgenannten Aspekt, der als Beispiel wiederum auch für die anderen Bereiche steht, um das näher auszuführen.


Um uns nicht gleich in der ganz großen Politik zu verlieren, sei angeraten, mal eine Ratssitzung in einem beliebigen Stadtparlament zu verfolgen. Da wird vielleicht ein neues Freibad geplant (es kann aber auch irgendwas anderes sein, ist ja nur ein Beispiel), und es werden die Pläne dazu vorgestellt. Die Opposition hat Bedenken und erhebt Einwände. Nun könnte man meinen, wo die Vernunft regiert, würden Einwände auf ihre Relevanz geprüft, und wo sie ihre Berechtigung hätten, würden Pläne in gemeinschaftlicher Absprache geändert. Das aber geht selbstredend nicht, denn dadurch würde ja die eigene Planungskompetenz implizit kritisiert. Schließlich könnte man denken, die mit der Planung Befassten hätten im Vorfeld nicht ordentlich geplant. Und wo käme man auch schließlich hin, wenn man dem politischen Gegner recht geben müsste. Also hört man sich alles in Ruhe mit bedächtiger, sprich: mit überlegt-vernünftiger Mine an, was der andere zu sagen hat, und wiederholt anschließend in – wenn überhaupt – leicht variierter Form die gleichen Argumente zum Bau des geplanten Bades (oder um was es gerade auch gehen mag) vom Beginn der Sitzung. Man könnte auch so sagen: Man „ignoriert“ einfach das vielleicht Triftige, aber Unliebsame, und indem man sich in Wiederholungsphrasen ergeht, tut man ja auch so, als ob man nach vernünftigem Bedenken leider den Einwand verwerfen müsste. Man erspart sich im Übrigen das anstrengende Nachdenken, den tatsächlichen Sachverhalt erneut zu prüfen, wenn man ihn jemals überhaupt geprüft hat und nicht einfach eine Verwaltungsvorlage akzeptiert und scharf aufpasst, dass man den richtigen Zeitpunkt zum Finger heben nicht verpasst.


Die Ignoranz ist das Gleitmittel im Getriebe bei Entscheidungsfindungsprozessen.


Und wenn dieses Phraseologie-Spiel von Einwand und Wiederholung ein paar Mal abwechselnd so gespielt wurde und man es als Initiator der Urvorlage endlich Leid ist, beleidigt man den anderen – das kürzt den Meinungsfindungsprozess ungemein ab – und schreitet, nachdem so für die rechte Stimmung gesorgt wurde, zur Abstimmung, um den eigenen Entwurf endlich auf den Weg zu bringen. In seltenen Fällen passiert es nun aber, dass die Einwände des anderen doch so triftig sind und die eigenen Gründe so banal, dass das Ignorieren schwer fällt und kaum noch möglich scheint. In solchen Fällen beleidigt man den anderen sofort und schreitet dann zur Abstimmung und bringt das Projekt, natürlich weiterhin wie von vornherein geplant, auf den Weg.


Noch besser ist es aber, wenn man den geringst-möglichen berechtigten oder unberechtigten Anlass (das ist einerlei) dazu nutzt, sich über Äußerungen und Einwände des Gegenübers "moralisch" zu entrüsten. (Wenn es um Moral geht und man es schafft, sie ins Spiel zu bringen und für sich punktgenau in Szene zu setzen, haben die Vernunft und Argumente eh verloren). Ein ultimatives BINGO ist also die Folge! Gewonnen!!! Kein Mensch fragt mehr nach Sachgründen. Alles tobt und schimpft: entrüstet sich! --- Sofort abstimmen lassen!

So weit unser kleiner Ausflug in so manche Ratssitzung, die aber der Anschaulichkeit wegen nur als Beispiel für vieles gewählt wurde, wo man Ähnliches beobachten kann.

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Einladung zur eigenen Beobachtung und in den Raum gestellte Hypothese: In vielen Fällen und möglicherweise in fast allen Lebensbereichen funktionieren „vernünftig“ geführte Auseinandersetzungen genau nach diesem vorgestellten Muster und dies um so mehr, wo Herzensangelegenheiten angerührt sind.


Fragwürdiges und gewagtes Fazit: Wird in der Regel bei einer Vielzahl (einer Mehrzahl gar?) von Auseinandersetzungen und in Entscheidungsfindungsprozessen tatsächlich ein Größtmaß an Vernunft dafür verwendet, um die Argumente eines ungeliebten, vielleicht aber auch geliebten Gegenübers bloß nicht vernünftig prüfen zu müssen oder schlimmer noch: ihnen gar folgen zu müssen?

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PS. Sollte hier und da mal eine leichte Überspitzung mir unterlaufen sein, so bitte ich dies zu entschuldigen. Es ist dies aus Gründen der Präzisierung des einen oder anderen Gedankengangs nur geschehen.