Differenzierungslogiken

Wenn ich gestern über die jemenitische Stammesgesellschaft geschrieben habe und sie der funktionell-differenzierten Gesellschaft entgegen gesetzt habe, so ist "Entwicklung" dabei nicht als Bewertung zu verstehen, der irgendeine Idee von "Fortschritt" zugrunde liegt. Es geht lediglich um unterschiedliche Formen der Differenzierung: Eine Stammesgesellschaft ist segmentär differenziert, unsere gegenwärtigen westliche Gesellschaft ist nach Funktionssystemen differenziert. Beides sind unterschiedliche Logiken der Differenzierung - und deshalb weder "an sich" besser noch schlechter. Die Bewertung liegt im Auge des Betrachters. Und wenn von einem "Rückwärts" der Entwicklung gesprochen wird, so ist dies ebenfalls nicht im Sinne der Bewertung, sondern allein zeitlich zu verstehen. Es gibt offenbar Strukturformen, die sich auseinander entwickeln (können). Sie können das, sie müssen es nicht. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen welche Differenzierungs- und Strukturformen entwickeln.


Allerdings können alle solche Strukturen darauf hin untersucht werden, welche Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten und Grenzen sie für den Einzelnen, die Gesellschaft insgesamt usw. eröffnen oder verschließen (s. mein Einführungs-Büchlein über Wirtschaftstheorie).


Dass aus einer Stammesgesellschaft sprunghaft - als Stufenfunktion sozusagen - eine funktionelle Differenzierung erwächst, scheint mir sehr zweifelhaft. Aber dass es unbedingt ein Feudalsystem sein muss, scheint mir auch nicht zwangsläufig.


Üblicherweise werden solche Veränderungen der Strukturen durch die Anwendung von Gewalt herbei geführt. Jemen und Afghanistan waren bislang über Jahrhunderte in der Lage, sich gegen solch eine, von außen kommende Gewalt zur Wehr zu setzen. Sie werden es auch noch länger schaffen...


Und eigentlich könnte uns das ja auch egal sein, wenn die Abwesenheit einer funktionierenden Zentralgewalt nicht den Rückzugsraum für die bin Ladens dieser Welt eröffnen würde. Also sollte man überlegen, wie man in Stammesgesellschaften Politik macht, statt mit Gewalt eine staatliche Ordnung einführen zu wollen.