Die Problematik von Volksentscheiden

Das Referendum, in dem am Donnerstag in Großbritannien über die EU-Mitgliedschaft bzw. den Austritt ("BREXIT") entschieden wird, kann helfen ins Bewußtsein zu rufen, wie problematisch Volksentscheide sind. Auf den ersten Blick scheinen sie ja das Demokratischste, was man sich vorstellen kann: Das Volk wird befragt und das Volk entscheidet. Doch das scheint mir ein gravierender Irrtum. Denn das Volk ist mit den meisten Fragen einfach überfordert, es ist - um es prononciert auszudrücken - einfach zu dumm, zu schlecht informiert, zu emotional, zu kurzfristig denkend usw.


Die sogenannten basisdemokratischen Prozeduren führen zur Beseitigung der Demokratie, wenn sie nicht sehr beschränkt werden - ein Paradoxon. Denn solche Entscheidungen werden nach den Prinzipien von Märkten getroffen: Ideen werden verkauft, und der Verkaufserfolg hängt in der Regel nicht oder nur beschränkt von sachlichen, sondern emotionalen Erwägungen und/oder kurzfristigen Stimmungen ab. Populismus ist nicht identisch mit Demokratie - zumindest nicht mit der Intelligenz demokratischer Strukturen und Institutionen, die sich im Laufe der letzten Jahrhunderte im Westen entwickelt haben (z.B. Gewaltenteilung, Gewaltmonopol des Staates, repräsentative Demokratie).


Im Unterschied zur Logik von Volksentabstimmungen entscheidet bei der repräsentativen Demokratie  das Volk nicht über einzelne Sachfragen (zu dem ihm im allgemeinen die Sachkompetenz fehlt), sondern es entscheidet auf einer logisch übergeordenten Ebene über Entscheidungsprämissen: (1) Personen, die als Repräsentanten fungieren, bzw. Parteien, die für ein (2) Programm stehen (idealerweise, was leider nicht  immer der Fall ist). Werden Individuen gewählt, so erhalten sie (mit Widerrufsrecht) das Vertrauen im Namen ihrer Wähler zu entscheiden. Als Berufspolitiker (wenn vielleicht auch nur auf Zeit) können sie die Sachkunde erwerben, die ihren Wählern fehlt. Das heißt aber nicht, dass nun die Experten die Macht übernehmen, denn sie können, wenn sie nicht im Sinne ihres Wahlvolkes entscheiden, davon gejagt werden. Hier erfolgt die Rückkopplung zwischen Wählern und Repräsentanten, die - immer idealerweise - für deren Bodenhaftung sorgen kann. Auf diese Weise können Kompetenzerwerb auf der Sachebene und Repräsentativität/Vertrauen auf der Beziehungsebene gekoppelt werden.


Es war ja die Erfahrung des Nationalsozialismus, welche die Väter des deutschen Grundgesetzes dazu veranlasst hat, die Möglichkeit von Volksentscheiden extrem zu begrenzen - und man kann nur froh darüber sein. Das bezieht sich vor allem, wo es um Struktur- und Verfassungsfragen geht, eine weitere Entscheidungsprämisse (3). Über sie kann aus gutem Grund nicht einfach abgestimmt werden, d.h. der Rahmen von Regeln ist gesetzt und nur schwer zu verändern. Dass Cameron jetzt in GB einen Volksentscheid über die EU-Mitgliedschaft angesetzt hat, geschah aus rein parteipolitischen Gründen, um den Widerstand gegen sich in der eigenen Partei zu limitieren. Verantwortungslos. Idiotisch.


Das Volk über Strukturfragen entscheiden zu lassen, erscheint mir analog zu einer aus einer augenblicklichen Stimmung heraus erfolgenden Entscheidung zur Geschlechtsumwandlungsoperation (d.h. nicht wirklich sehr intelligent und mit einem nachhaltig nicht zu unterschätzenden Reuepotential).