Die Lebenspraxis der Seeigel und andere fliegende Dörfer

Es wird heute in der Zeitung berichtet, dass die Seeigel, genetisch betrachtet, zu den nächsten Verwandten des Menschen gehören. Das ist eine spannende Mitteilung. Wird einem doch seit Jahrzehnten versprochen, demnächst die genetischen Grundlagen von Krankheiten wie etwa der Schizophrenie zu entdecken ("spätestens in fünf Jahren werden wir soweit sein", heisst es, und zwar, soweit ich das verfolgen kann, seit den 1970er Jahren). Jetzt also wissen wir, dass es ausreichen würde, das Alltagsleben der Seeigel zu studieren, um dem Geheimnis der Schizophrenie und verwandter Krankheiten auf die Spur zu kommen. Dem steht allerdings entgegen, dass Seeigel nicht dafür bekannt sind, kulturelle Produkte, also z. B. epochale Romane wie die Wahlverwandtschaften, Gemälde wie Guernica, Sinfonien wie die Siebte von Beethoven und dergleichen geschaffen zu haben (allerdings haben sie auch keine Pläne zur Vernichtung ganzer Ethnien ersonnen). Jedenfalls: So lange das familientherapeutische Personal mit solchen Botschaften wie der von den Seeigeln und ihrem Genom konfrontiert wird, kann es getrost bei den bestehendenKonzepten bleiben und sie weiter entwickeln. Aber das Jay Haley in den 70er Jahren auch schon gesagt.


Wenn wir schon beim Malen sind: Wer therapeutisch vorzugswseise mit Familiengeschichten arbeitet, muss sich manchmal vorhalten lassen, er bzw. sie sei nur rückwärtsgewandt. Ich halte das für keine zutreffende Beschreibungen, denn die Arbeit mit Familiengeschichten geschieht in der Regel auf einer Grundlage, die mit dem Malstil von Chagall verwandt ist. Malt er etwa einen Blick aus seinem Fenster auf den Eiffelturm, dann fliegen ganze Dörfer samt ihren Belegschaften aus Chagalls russischer Heimat durchs Bild. Ich nehme Chagall das ohne weiteres als seine Realität ab und komme nicht auf die Idee, diese Bilder in einer Weise phantastisch zu halten wie etwa Bilder von Dali. Chagall hat es verstanden, menschliche Bewusstseinswelten in Bilder umzusetzen: auch in Paris trug er seine Vergangenheit als Gegenwart mit sich herum, während er gleichzeitig einer weiteren Gegenwart, der Pariser Gegenwart, zugewandt war. Zukunft hat er allerdings nicht gemalt, das geht wohl auch nicht - in der Therapie allerdings schon.