Die Landärztin

Über die Weihnachtsfeiertage bin ich alle Jahre wieder einem intensiven inter(sub)kulturellen Training ausgesetzt. Letztes Jahr hatte ich das Privileg, von drei älteren Damen (Altersdurchschnit ca. 90) in die Untiefen deutschen Schlager- und Volksliedgutes eingeführt zu werden, indem ich tagelang Sendungen im Fernsehen ansehen durfte, in denen die Stars der Szene auftraten und mir die Ohren zugesungen haben.


Da mein Bedarf an Aufklärung in diesem Bereich (besser: meine Leidensfähigkeit) gestillt ist (für alle Zeiten), habe ich beim ersten Auftauchen des Namens Carmen Nebel erfolgreich die Kontrolle über alle im Haus verfügbaren Fernbedienungen an mich gerissen. Allerdings konnte ich die Programmgestaltung nur negativ (i.S. von: das auf keinen Fall!) übernehmen, da die Übermacht der drei alten Damen zu groß war. So durfte ich gestern einen Film ansehen, in dem Marianne Koch eine Landärztin in Bayern spielte.


Irgendwie war das ein Aha-Erlebnis. Für diejenigen, die Marianne Koch nicht kennen: Sie ist für die 50er Jahre das, was Nicole Kidman heute ist. Sie spielte eine junge Ärztin, die eine Praxis in einem malerischen bayrischen Dorf übernahm und von den Dorfbewohnern, die unbedingt einen Mann als Arzt haben wollten, gemobbt wurde. Tapfer, tapfer versuchte sie zu beweisen, dass Frauen nicht nur irgendwie Menschen sind, sondern auch Halbgötter in weiss sein können.


Der Film hat mich tief erschüttert. Denn er wurde im Jahre 1958 gedreht, und ich gehe davon aus, dass er das damals herrschende Frauen- und Arztbild so angemessen darstellte, dass es vom Publikum nicht von vornherein als Karikatur abgetan wurde (wie es heute erscheint). Ich wurde mit einer Seite des bundesrepublikanischen Lebens konfrontiert, die für mich als Kind, da ich 1958 10 Jahre alt war, ja irgendwie auch prägend gewesen sein muss. Gut, ich bin nicht in Bayern und nicht auf dem Dorf aufgewachsen, sondern in einer westdeutschen Großstadt, aber dennoch...


Alles in allem muss ich sagen, dass in diesen 50 Jahren, seit der Film gedreht wurde, die Bundesrepublik Deutschland - bei aller Kritik, die man an vielen Einzelaspekten unseres heutigen gesellschaftlichen Lebens üben kann - sich doch in eine Richtung entwickelt hat, die mir als positiv erscheint. Die normative Enge und der Anpassungsdruck, die in der verlogenen Süße des Films nur zu ahnen waren, habe ich auch in der Großstadt erlebt, und ich bin heilfroh, nicht mehr in einem derartigen, romantisierten Muff leben zu müssen...


Reste davon erlebe ich allerdings noch, wenn ich Volksmusiksendungen sehen muss. Wie der Film gestern ausgegangen ist, weiß ich nicht, denn ich konnte ihn nicht bis zu Ende ansehen - das war körperlich und seelisch nicht auszuhalten.


(Immerhin hat Marianne Koch - vermutlich durch diese Filmerfahrung angeregt - ja den Absprung gefunden und ist wirklich Ärztin geworden. Das hat Nicole Kidman noch vor sich.)


Auf jeden Fall ist jedem zu empfehlen, sich deutsche Filme anzuschauen, die Kassenschlager waren, als er 10 Jahre alt war. Das hilft gegen jede Nostalgie.