Die Formel im Kopf

Als ich noch sehr jung war, hielt ich es nicht für erstrebenswert, Professor zu werden. Stets musste man gewärtig sein, von Geheimdiensten fremder Staaten oder mafiösen Interessengruppen gefoltert, entführt oder beides zu werden, um die Formel preiszugeben, die man im Kopf hatte. Hitchcock hat mich in dieser Ansicht bestärkt und später habe ich zunächst gezögert, weil ich mich –wegen der fehlenden Formel im Kopf – noch nicht für professorabel hielt. Nach und nach habe ich dann gemerkt, dass viele Kollegen auch keine Formel im Kopf hatten und auch das, was sie stattdessen im Kopf hatten, gar nicht in demselben behalten wollte. Kaum regte sich da was, schon wurde es zu Papier gebracht und es wurde nichts unversucht gelassen, um „es“ möglichst vielen zur Kenntnis zu bringen. Es gab allerdings Ausnahmen, aber ich war damals schon so angepasst, dass ich diese Ausnahmen zunächst als schlechten Witz abtun wollte.


Als ich vor Jahren mein Dienstzimmer noch im Uni-Rechenzentrum hatte, hörte ich dort das Gespräch von zwei Mathematikern und der eine fragte den anderen: Was bieten Sie denn im nächsten Semester für ein Hauptseminar an. Und der andere antwortete: „Na, was wohl, natürlich eins über Primzahlen.“ Ein befreundeter Mathematiker machte mich dann darauf aufmerksam, wie töricht meine Erheiterung darüber sei, da das Gebiet der Primzahlen nicht nur äußerst komplex, sondern für höhere Steuerungsprozesse bei Militär und Raumfahrt äußerst bedeutsam sei. Später lernte ich den Mathematik-Professor persönlich kennen. Zum damaligen Zeitpunkt, es gab für die Datenverarbeitung noch Lochkarten, standen wir häufiger freitags abends um 23 Uhr in der Warteschlange des Rechenzentrums, um unsere Computer-Ausdrucke abzuholen. So lernte ich ihn kennen und in seiner besonderen hilfsbereiten Art schätzen. Wenn es spät wurde, bot ich ihm manchmal an, ihn mit meinem Auto nach Hause zu bringen, er wohnte nur eine Straße weiter. Beim ersten Mal fragte ich noch, wo ich ihn absetzen könne und er antwortete mir: „Dort drüben, wo das Auto mit der Primzahl auf dem Kennzeichen steht.“ Fasziniert begann ich seine Welt zu teilen, die sich, wie ich künftig mitbekam, in ungeahnten Bereichen nach Primzahlen und Nicht-Primzahlen strukturieren ließ. Eines Tages jedoch kühlte sich das herzliche Einvernehmen deutlich ab. Es war wieder ein Freitag, das Datum war eine Primzahl, die auch von Nichtkennern häufig als Unglücksdatum bezeichnet wird, da lehnte der Mathematiker mein Angebot, ihn zu Hause abzuliefern, strikt und, wie ich fand, etwas distanziert ab. Ich versuchte es noch mal an einem Tag mit einer Nicht-Primzahl, aber das machte offensichtlich keinen Unterschied. Später erfuhr ich, dass er zum Geheimnisträger geworden war, weil er jetzt auch für irgendeine Institution arbeitete, die sich offenbar sehr für nächst höhere Primzahlen interessierte. Nun war er bzw. sein Kopf Geheimnisträger seiner eigenen Formel.


Diese für mich doch etwas enttäuschende Erfahrung hat mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass es für die Wissenschaft unabdingbar ist, wenn sie ihre Befunde möglichst umgehend kommuniziert – und möglicherweise ist dies auch gesünder für den Wissenschaftler. Dies wird in der Überzeugung der scientific community „publish or perish“ ebenso deutlich wie in den bis dato für mich etwas überzogen wirkenden Bemühungen einiger meiner Kollegen, jeden auch noch so kleinen Gedanken sofort zu veröffentlichen (Und die Erleichterung, die ich jetzt, zur Halbzeit meiner Kehrwoche spüre, spricht ja auch Bände).

Manchmal ist es sogar über-lebensnotwendig, wenn man die Formeln, die man im Kopf hat, möglichst umgehend möglichst vielen mitteilt. Dies hat unlängst der Leiter des Münchner Instituts für Gravitationsphysik, Professor (!) Hans Peter Niesward gemacht und wie er zu dieser Formel gekommen ist, muss ich kurz (ich versuch es) nachzeichnen. Vor ziemlich genau 4 Jahren schoss Brasilien im Endspiel der Fußball- WM das 1:0 gegen Deutschland und just zu diesem Zeitpunkt verzeichnete sein Institut bedeutsame seismische Aktivitäten. Niesward und sein Team schlossen daraus, dass es Millionen nicht mehr auf den Sitzen gehalten habe und dies Ursache des geringen Erdbebens sei. Nun wären statt des Hüpfens ja andere explikative Konstrukte möglich: Ich hätte beispielsweise vermutet, dass Millionen deutscher Fernsehzuschauer ob des Patzers unseres Titanen Olli Kahn gleichzeitig auf Tischplatten unterschiedlicher Beschaffenheit geschlagen hätten (ich gestehe zu, dass ich häufig in der Wissenschaft einem statischen, wenn auch systemischen Menschenbild anhafte, das in dieser Biergartenmetapher eigentlich ganz gut aufgehoben ist).


Wie dem auch sei, Niesward favorisierte das Hüpfen und unter dieser Prämisse entwickelte sich in seinem Kopf eine Formel, die eine Rettung aus der sich abzeichnenden Klimakatastrophe versprach. Aufgrund der empirischen Daten von 2002 berechnete er die Anzahl an Menschen (mit seiner Formel im Kopf), die zu einem bestimmten Zeitpunkt (am 20.Juli 2006, also vor genau zwei Wochen) gleichzeitig (um 12:39:13 MEZ) in die Höhe springen sollten. (Warum es gerade der 20. Juli sein sollte, weiß ich nicht, vielleicht weil zu diesem Zeitpunkt vor 37 Jahren Neil Armstrong auf den Mond sprang, aber das war ja bekanntlich nicht um 12Uhr 39.) Und warum sollten die Erdbewohner hüpfen? Nach der Formel im Kopf des Professor Niesward sollte dadurch sowohl Achse wie Umlaufbahn der Erde in dem Maße verändert werden, dass eine deutliche Klimaverbesserung eintritt und der Tag sogar um eine Stunde länger wird (Dies finde ich besonders faszinierend, weil durch diesen Zeitgewinn in etwa das tägliche Schreiben in einem weblog kompensiert werden könnte). 600 Millionen Menschen hätten springen müssen, laut website des Projekts (www.worldjumpday.org) sind vor zwei Wochen dann tatsächlich 600 248 012 Menschen gesprungen.

Natürlich, wie das in einer lebendigen (!) Wissenschaft so üblich ist, blieben die zitierten Thesen und Formeln nicht unwidersprochen. Der Preußische Kollege, Professor Jürgen Ehlers vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik hält all das für „völligen Unsinn,“ wie er in einem Gespräch der FR mitteilt. Seine Überlegungen sind für jemanden, der einen so schlechten Physikunterricht „genossen“ hat wie ich und der mit einem Freudenhüpfer aufgegriffen hat, wie die Biologie zunehmend die Schwesterwissenschaft systemischen Denkens wurde, schwer nachvollziehbar. Offenbar, so meine laienhafte Zusammenfassung, soll in einer Art Gravitations-Nullsummenspiel das Auf- und Abhüpfen in einem geschlossenen physikalischen System nicht die erhofften Wirkungen haben, s. a. Newtons drittes Axiom. Kurz gesagt, die ganze Menschheit kann hüpfen, wie sie will, es tut sich nichts (Ich will an dieser Stelle keinem Kollegen nahe legen, daraus Schlüsse für seine systemischen Interventionen zu ziehen. Aber wie heißt es so schön: Recht hat, wer heilt!


Schauen wir doch mal, was sich seither geändert hat? Leider steht die Auswertung des Jump-Projekts laut website erst in einer Woche zur Verfügung, aber ich möchte erste Hinweise auf differentielle Effekte mitteilen: Bei meiner Formel im Kopf, die ich schnellstens mitteilen möchte, muss mit einer Verzögerung der Effekte gerechnet werden, und zwar genau um den Zeitraum, der sich aus dem Quotienten von Dauer der Umlaufbahn der Erde und der des Mondes ergibt, berechnet natürlich für die Geschwindigkeit der letzten Wochen. Nach dieser Formel in meinem Kopf ergibt sich eine Verzögerung der Effekte um exakt 12,1 Tage und am 1. August ist folgendes passiert: 1. Die Hitzewelle hat abrupt aufgehört, die Münchner Rückversicherung sagt aufgrund ihrer neuen Berechnungen eine „normale“ Hurrikansaison voraus , allerdings - seit dieser Zeit leidet der Osten der USA unter der Hitze, gestern hat es in Mexico-City gehagelt, in Südafrika herrscht klirrende Kälte.(hier werden sicherlich die exakteren Daten –wie viele sind wo gehüpft –herangezogen werden müssen) und 2. Seit diesem Datum hat sich für mich der Tag entgegen den Erwartungen um eine Stunde verkürzt(!), meine Frau Ruth kann das bestätigen, sie führt das allerdings auf meine weblog- Aktivitäten zurück.


Nun gibt es einige Leute, die sicher zu sein glauben, dass Prof. Niesward gar keine Formel im Kopf hatte, weil es den Kopf und den guten Namen und das Institut von Prof. Niesward in München gar nicht gäbe. Aber die zitierte website und den Prof. Ehlers aus Potsdam und sein Institut und seine Kritik und die Veränderungen von denen ich berichtet habe, die gibt es wirklich. Wirklich? Tante Klara sagt mit diesem bedeutungsschwangeren Unterton in der Stimme, den ich bisweilen bei ihr wahrnehme: „Ach Junge, es gibt bisweilen nichts Unwirklicheres als die Wirklichkeit. “ Heute morgen hat doch tatsächlich ein Blog-Leser und geouteter Tante Klara-Fan gemailt und gefragt: „Gibt es Tante Klara eigentlich wirklich?“