Die Dysfunktionalität des Mehrheitswahlrechts

Wer die Abstimmungen über die unterschiedlichen Brexit-Modelle im britischen Unterhaus verfolgt hat, dem sollte deutlich geworden sein, dass das Mehrheitswahlrecht dysfunktionell ist. Es ist in der Lage Entscheidungen darüber herbei zu führen, was nicht geschehen soll, d.h. über die Negation von Optionen, nicht aber über deren positive Befürwortung.


Der Grund dafür ist m.E. dass durch das Wahlverfahren versucht wird, mit einer zweiwertigen Entweder-oder-Logik einem Typus von System (einer politischen Einheit, genannt Staat) gerecht zu werden, der hoch differenziert und vielfältig in seiner Komposition ist. Bei Entscheidungen wird zwar generell irgendwann die Entweder-oder-Frage gestellt, aber es gibt - siehe Tetralemma (sei es in der Sparrer/Varga von Kibéd- oder in meiner Version) mehr als nur zwei Möglichkeiten darauf zu antworten (was sich im Unterhaus in der meist gewählten Weder-noch bzw. Keins-von-beidem-Option manifestiert).


Soziale Systeme sind paradox organisiert, so dass Entweder-oder-Entscheidungen immer nur (sehr) kurzfristig passen sein können, und auch dann nur, wenn die Alternativen so formuliert sind, dass möglichst viele unterschiedliche Optionen dadurch offen bleiben, damit sich möglichst viel Interessengruppen dadurch in ihren Zielen nicht beschnitten fühlen bzw. in ihren Zielen vertreten fühlen.


Das britische Wahlsystem hat sich über Jahrhunderte als funktionell erwiesen. Allerdngs war das in einer Zeit, als die Gesellschaft noch in Schichten, speziell in Oberschicht und den Rest der gemeinen Bevölkerung differenziert war (was in Oberhaus und Unterhaus seine Repräsentation gefunden hat). Aber inzwischen ist auch die britische Gesellscahft wie andere westliche Gesellschaften weit differenzierter, was sich z.B. in Deutschland in einer immer differenzierter werdenden Parteienlandschaft zeigt. Es gibt keine Volksparteien mehr, da auch Rechts-links- oder Progressiv-konservativ-Unterscheidungen nicht mehr passend sind, um der Struktur der Gesellschaft gerecht zu werden. Daher ist ein Wahlsystem, das dazu zwingt in Koalitionen (d.h. es gibt keine absoluten Mehrheiten mehr) Kompromisse zu machen, weitaus passender und rationaler als dieses The-Winner-Takes-It-All-System der Briten. Faule Kompromisse sind ziemlich vernünftig, wenn es um Entscheidungen heutzutage geht. Systemrationalität ist etwas anderes als zweiwertige Logik. Tertium datur.


Dass Frau May, deren Kränkungsresitenz und Sturheit durchaus Bewunderung verdient, so eine lausige Politik macht, erklärt sich m.E. aus dem etwas - wie soll ich es höflich sagen - "schlichten" Glaubensbekenntis, das sie mantraartig wiederholt: "Brexit means brexis!" - Ein vollkommen sinnfreier Satz, angesichts der Tatsache, dass niemand weiß, was Brexit means...