Die Bosheit des Banalen

Seit gestern ist der Film über Hannah Arendt und ihre Berichterstattung vom Eichmann-Prozess (1961) in den Kinos. Ein sehenswerter Film. Aber ich will hier keine Filmkritik schreiben, sondern ein paar Überlegungen zu den im Film gezeigten empörten Reaktionen auf Arendts Darstellung von Eichmann als mittelmäßigem, kleinbürgerlichem Bürokraten, der sich keiner Schuld bewußt ist, anstellen.


Das 50er-Jahre-Nachkriegs-Bild der Nazis war, dass hier böse Menschen, Dämonen, Inkarnationen des Satans am Werk waren. Der Eichmann-Prozess hingegen hat gezeigt, dass es vollkommen durchschnittliche Menschen waren, die den Holocaust möglich gemacht haben.


Die Empörung in den USA, Israel, dem Rest der Welt über Arendts Darstellung galt der vermeintlichen Verteidigung Eichmanns. Ihre Entdämonisierung und "Normalisierung" passte nicht in das schlichte Schwarz-weiss-Weltbild, das die Ursache allen Übels in üblen Personen sah (nebenbei bemerkt: eine Interpretation, die heute immer noch von den meisten, nicht systemisch denkenden Menschen vollzogen wird).


Ich habe das Buch von Hannah Arendt (noch) nicht gelesen, aber ich vermute, dass ihr noch das (organisations-)theoretische Instrumentarium fehlte, um das Phänomen Eichmann - und das der am Holocaust beteiligten offiziellen Vertreter der Juden in Deutschland - erklären zu können.


Eichmann hat sich persönlich nicht schuldig gefühlt, weil er auf Befehl gehandelt habe (ein Argument, das fast alle Nazi-Größen verwendet haben; die kleineren Rädchen in der Vernichtungsmaschine erst recht).


Und eigentlich haben sie damit das Problem auf den Punkt gebracht.


Organisationen sind soziale Systeme, die deswegen funktionieren, weil Menschen bereit sind, die Entscheidungen anderer Menschen (Rollenträger, Hierarchen) als Prämissen für eigene Entscheidungen zu akzeptieren. Sie können daher Handlungen vollziehen, ohne dafür einer eigenen Motivation zu bedürfen. Sie machen, was man ihnen sagt, und die Verantwortung für ihre Aktionen sehen sie bei denen, die "das Sagen haben".


Auf diese Weise sind Organisationen als handelnde Einheiten in der Lage Handlungen zu vollziehen, die weit über die Kapazitäten des Einzelenen hinausgehen. Und dies ganz wertfrei: Organisationen können den Hunger in der Welt bekümpfen, Menschen auf den Mond schicken, einen Holocaust vollziehen... Alles "Leistungen", für die letztlich kein Einzelner die Verantwortung übernimmt oder übernehmen will oder übernehmen kann. Denn es bedarf der autonomen Entscheidungen Tausender, um dies zu tun. Doch diese Tausende sehen im Klein-klein ihres Handelns nur das banal Alltägliche organisationaler "Pflichterfüllung", isoliert, nicht-verknüpft, kontextfrei. Es ist für sie weder gut noch böse. Doch organisierte soziale Prozesse eröffnen sowohl Chancen (= gut), als auch Risiken (= böse), die üblicherweise nicht ins Blickfeld ihrer Mitglieder geraten.


In der Organisationstheorie gibt es den - wie ich finde sehr treffenden - Begriff der "Indifferenzzone". Damit wird beschrieben, dass die Mitglieder der Organisation Handlungen vollziehen, die bzw. deren Auswirkungen ihnen letztlich egal sind. Für die konkreten, eigenen Tätigkeiten in Organisationen braucht man keine originären eigenen Motivate, denn meist reicht es, wenn man dafür bezahlt wird...


Das Problem der großen und kleinen Eichmanns wie der jüdischen Offiziellen, die mit ihnen kooperiert haben, ist, dass ihre Indifferenzzone - offenbar - ziemlich weit war. Das hat sie schuldig werden lassen. [Das ist vielleicht ja ein spezifisch deutscher kultureller Faktor, über den wir wieder mal nachdenken sollten.]


Konsequenz: Man darf auch in Organisationen die Verantwortung für das, was man tut, nicht aufgeben. Auch wenn man organisationale Entscheidungsprämissen akzeptiert, kommt man nicht aus der Verantwortung für seine Entscheidungen. Im Zweifel muss man gegen diese Prämissen verstoßen, sie in Frage stellen, sich verweigern, die Organisation verlassen, in den Widerstand gehen...


Das mag weitreichende persönliche Konsequenzen haben, aber alles hat eben seinen Preis. Man muss sich entscheiden, ob man Täter sein will. Und wenn man sich nicht dagegen entscheidet, dann wird man zum Täter.