Diagnostischer Imperialismus

In der New York Times vom 10.1.2010 steht ein Artikel mit dem Titel "The Americanization of Mental Illness"


(http://www.nytimes.com/2010/01/10/magazine/10psyche-t.html?em=&pagewanted=print).


Hier wird gut nachgezeichnet, wie in den letzten 50 Jahren das biologische Modell psychischer Krankheiten als Gehirnkrankheiten weltweit exportiert worden ist und wie dabei über die regionalen und kulturellen Unterschiede, wie sich psychisches Leid zeigt, hinweggegangen wurde. Sie interessieren ja auch nicht, wenn man die Idee einer biologischen Krankheit vertritt. Dass diese Sichtweise auch massiv von der Pharmaindustrie unterstützt wurde, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Auf diese Weise sind auch Symptome exportiert worden, d.h. man hat weltweit westliche Symptombildungs-"Moden" übernommen. Die Diagnostiker als professionelle Beobachter haben sich an die Diagnose (=Beobachtungs-) Richtlinien der WHO oder der American Psychiatric Association (ICD, DSM) gehalten und die Patienten zeigen, was die Beobachter erwarten bzw. wonach sie suchen.


Da ich daran beteiligt war, psychotherapeutischen Methoden in China zu vermitteln, kann ich diesen Import von Symptomen nur bestätigen. Als ich das erste Mal in China gearbeitet habe (1988), gab es Zwangssymptome, Schlafstörungen, "Neurasthenie", und erst ab Mitte der 90er Jahre gab es dann auch Anorexien etc.


Dass diese implizite oder explizite Biologisierung der Krankheitsmodelle von den amerikanischen Kollegen (und nicht wenigen hier - mit denen ich mich immer viel gestritten habe) aus noblen Motiven erfolgt ist, sei nicht bestritten. Sie hatten die Idee, die Stigmatisierung psychisch Kranker zu reduzieren, wenn derartige Symptome als Ausdruck biologischer Krankheiten erklärt werden (dabei wurde und wird - nebenbei bemerkt - viel über die vermeintlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse gelogen, wenn auch wahrscheinlich aus lauteren Motiven).


Aber - und darauf wir in dem Artikel auch hingewiesen - inzwischen zeigt sich, auch experimentell bestätigt, dass die Erklärung eines abweichenden Verhaltens als biologisch begründet weit stärker ausgrenzende und diskriminierende, sozial isolierende Wirkungen hat als psychologische Erklärungen...


Ich fühle mich - unverbesserlicher Besserwisser, der ich nun mal bin - wieder einmal bestätigt, dass derartige vordergründige, vermeintliche Exkulpationsstrategien (nicht nur die Patienten, sondern auch für die Familien) fatal sind. Denn sie nehmen den Beteiligten, Patienten wie Angehörigen, die Option, Einfluss zu nehmen (wie kann man als Mutter/Vater/Bruder/Schwester den Hirnstoffwechsel seiner Lieben beeinflussen? Man ist darauf angewiesen, dass den Ärzten was einfallt. Keine Strategie des Empowerments). Wenn es hingegen interaktionelle Faktoren sind, die ihn oder sie in den Wahnsinn treiben, so kann man was ändern...


(Dauert sicher noch ein paar Jahrzehnte eh sich das rumspricht.)