Diagnosen

Im Systemmagazin (www.systemagazin.de) läuft im Moment gerade eine Diskussion, ob es aus systemischer Sicht sinnvoll ist, Diagnosen zu verwenden und ein "störungsspezifisches Wissen" zu propagieren etc. Anlaß ist das "Lehrbuch II" von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer (Vandenhoeck & Ruprecht).


Diese Diskussion ist nicht neu. Ich kenne sie auf jeden Fall, seit ich mich in diesem Feld bewege. Sie findet immer mal wieder eine andere Ausdrucksform, läßt sich aber m.E. nicht vermeiden, da sie Grundannahmen des systemisch-konstruktivischten Modells berührt. Deswegen kommt wohl keiner umhin, in dieser Frage Stellung zu beziehen (auf jeden Fall für sich selbst, wenn schon nicht öffentlich). Ich denke, dieses Thema ist gut, um mit dem freien Kehren zu beginnen...


Also, jetzt wird es persönlich:


Ich verwende als Privatmann Diagnosen nur, wenn ich jemanden beschimpfen will. Das tue ich nur ganz selten in dieser Form, und ist in der Regel ein Symptom dafür, dass ich mich hilflos fühle und keine besseren Möglichkeit gefunden habe, um mein seelisches Gleichgewicht (wieder) herzustellen. Meine Lieblingsdiagnose ist dabei "Salonschwachsinn" (etwas aus der Mode gekommen, wie die Salons) und ich verwende sie nur, um einen bestimmten Menschen - über den ich hier auf Anraten meines Anwalts nichts weiter sage - zu verunglimpfen (in diesem Fall stimmt die Diagnose zweifellos).


In meiner therapeutischen Arbeit verwende ich Diagnosen in der Regel nicht und brauche sie auch nicht für die Arbeit mit Familien, Patienten oder Kunden.


Wo Diagnosen mir aber unverzichtbar erscheinen, ist die Kommunikation mit Kollegen. Erst sie sorgen für die Anschlußfähigkeit im wissenschaftlichen und berufspolitischen Feld.


Das Problem besteht darin, dass es einfach nicht wahrgenommen wird, wenn jemand erfolgreich systemisch mit "schweren Fällen" arbeitet, ohne eine entsprechende Diagnose zu verwenden.


Um dies zu illustrieren, ein kurzer Blick auf unsere Heidelberger Erfahrungen. In den 80er Jahren haben wir (Helm Stierlin, Gunthard Weber, Gunther Schmidt und ich - am Ende kam noch Arnold Retzer hinzu) mir Familien gearbeitet, in denen ein Mitglied die Diagnose "manisch-depressiv" erhalten hatte. Da allgemein die Meinung galt, dass Psychotherapie (erst recht Familientherapie) bei solchen Patienten zwecklos sei, standen wir vor dem Dilemma, diese Ansicht nur in Frage stellen zu können, wenn wir die Diagnose akzeptieren. Deshalb machten wir aus der Not eine Tugend und arbeiteten wir nur mit Patienten, die sich über lange Jahre ihre Diagnose in den Praxen von niedergelassenen Psychiatern und in Anstalten erworben hatten - quasi staatlich geprüfte "manisch-depressive Patienten". Wir konnten zeigen, dass unsere therapeutischen Wirkungen langfristig besser waren als die der Litium-Gabe usw.


Hätten wir auf die Diagnosen verzichtet, wären diese therapeutischen Erfolge disqualifiziert worden, aus der erfolgreichen Therapie manisch-depressiver Patienten wäre die erfolgreichen Arbeit mit "Paarproblemen" o.Ä. geworden. Und das wäre noch nicht einmal das Ergebnis bösen Willens gewesen, sondern auch der Gutwilligste hätte nicht wissen können, mit welcher Klientel wir arbeiten.


Durch die Akezptanz der (von Kollegen nach den "Regeln der Kunst" gestellten) Diagnosen wurde es uns auch möglich, unterschiedliche Muster der Interaktion und Kommunikation in Familien, in denen eine Person als "manisch-depressiv", als "schizophren" oder als "psychosomatisch" erkrankt diagnostiziert worden war, zu studieren und zu beschreiben (s. "Unterschiede, die Unterschiede machen", Suhrkamp Verlag).


Was uns diesen Umgang aus einer theoretischen Perspektive ermöglicht hat, ist, Diagnosen strikt als "Beschreibungen" von Kommunikation zu verstehen. Eine Diagnose sagt nur, dass ein Mensch sich in einem bestimmten interaktionellen Kontext (der Familie, der Arztpraxis, dem Krankenhaus, der Öffentlichkeit etc.) in einer bestimmten Weise verhält. Über Kausalität sagt sie nichts aus. Wenn ich das richtig verfolge, geht auch die Entwicklung des DSM in diese Richtung.


Wenn wir mit solch einem "abweichenden" Verhalten konfrontiert werden, so stehen wir vor der Wahl, welche Erklärungen wir dafür konstruieren. Aus diesen Erklärungen leiten wir dann unsere therapeutischen Strategien ab. Sind unsere Erklärungen biologischer Art, so werden wir in den Körper als System intervenieren, sind sie sozialer Art, so werden wir in das Kommunikationssystem intervenieren usw. Das Problem ist also nicht so sehr das Stellen oder Nicht-Stellen von Diagnosen, sondern die damit verbundenen oder stillschweigend implizierten Erklärungen und Bewertungen.


Wenn Diagnosen strikt in einem deskriptiven Sinne verwendet werden, so kann das Diagnosedilemma gelöst werden. Es sichert dies die Anschlußfähigkeit unter Fachleuten und bei den Krankenkassen, es ermöglicht aber trotzdem die alten Kausalitätszuschreibungen in Frage zu stellen. Auf diese Weise können Diagnosen sogar eine subversive Wirkung erzielen, weil sie - siehe das Heidelberg Manisch-depressiven-Projekt - lieb gewonnene Vorannahmen der Kollegen wie der Krankenkassen in Frage stellen können.


Auch wenn man den Begriff der "Störung" kritisch bewerten muss (als "gestört" wird in der Regel beurteilt, wer andere stört), scheint mir eine Differenzierung, d.h. das Unterscheiden von unterschiedlichen Strukturen und Prozessmuster, seien sie nun im Phänomenbereich des Organismus, der Psyche oder des Kommunikationssystems, unverzichtbar. Anderenfalls wäre ein Lernen, ein Auswerten von Erfahrung nicht möglich. Wir kommen um das Maßschneidern unserer therapeutischen Techniken nicht herum, denn dass ein Anzug allen passt, scheint (mir zumindest) sehr unwarhrscheinlich und entspricht nicht meiner Erfahrung...


Also: ein Plädoyer für Unterscheidungen (= Diagnosen).


Freundliche Grüsse, FBS