Descartes als Reibestein

Ein Schmetterling, starr von der Kälte der Nacht (und ich schwöre, er lachte leise, als er dann, sonnenwarm geworden, davon flog)... Der Tee eine Pfütze, in der ich mich spiegeln kann... Das Leben als solches und das Liebesleben im besonderen... So ein Tagebuch lockt mit zwei Gefahren, nämlich der einen, banal zu bleiben, und der anderen, sich selbst allzu eitel anzuwerfen. Andererseits: Man soll den Schreiber schon merken, ganz ohne Narzissmus wird's langweilig. Daher habe ich mir ein Gegenüber gesetzt, einen Reibestein, an dem ich mich wetzen und - manchmal - wärmen will: Guten Morgen also, René Descartes, seit ich Ihnen vor einigen Tagen in Paris wieder begegnete, haben Sie mich nicht mehr losgelassen, oder vielmehr, ich habe Sie nicht mehr losgelassen, denn bei Ihnen fand ich alle die Themen wieder, die mir im Moment auf den Nägeln brennen, und die in dieser Woche ein Forum bekommen sollen...


Themen, die bereits ein paar Jahre durchziehen und im laufenden Jahr neue Nahrung bekamen. Thomas Kling, der Dichter, und Detlef. B. Linke, der Hirnforscher, sind nämlich gestorben, in ganz kurzem Abstand gar, so als hätte eine Gottheit sich einen Reim machen wollen aus zwei Toten. Ich habe den einen geschätzt, den anderen geliebt. Linke hat in seinen Schriften zur Hirnforschung die Brücke zur Kunst immer frei gehalten (was ihn vor jener gebildeten Banalität bewahrte, die mitunter das Kennzeichen des Hirnforscher-Lagers zu sein scheint), Kling in seinen späten Texten Bezüge zum schamanischen Heilgesang erkennen lassen. So dass jetzt eine Lücke klafft gerade da, wo aus dem Wissenschaft-Kunst-Dualismus sich Ansätze zu einer neuen Wissens-Kunst entwickelten.


Angesichts der immer weniger verhüllten Ansprüche von Seiten einiger Hirnforscher, Weichen zu stellen für eine veränderte Pädagogik und Einfluss zu nehmen auf die Entstehung eines neuen Menschenbildes, wünsche ich mir einen Wissenschaftler-Typus, der wieder anknüpft ans Philosophische, Leise, Nachdenkliche, das nicht gleich auf jede Banal-Erkenntnis ein Logo klebt. Und will meine Zeit des Tagebuch-Schreibens als eine poetische Reflexologie begreifen. Descartes stelle ich mir dabei vor als jenen Mann, der zu den gegenwärtigen Debatten der Hirnforschung, der Medienkritik und der Wirtschaftsethik ein geeigneter Talkshow-Gast wäre. Man denke: Ein Mann, der den 30-jährigen Krieg mitgemacht und sein Schreiben zunächst ohne Veröffentlichungsabsicht begriffen hat (was man ihm anmerkt, da gibt es kein Schielen nach dem Lektor und schon gar keins nach dem Markt). Und dazu hat er jenen federmesserscharfen, im Vertrauen auf seine Schärfe fast zärtlich operierenden Verstand, welcher mir, der ich die Poeten, schwankend zwischen Suff und Syph, den Denkern immer vorgezogen habe, ein fortwährendes Lächeln ins Gesicht zaubert. Was nun über die Woche hinweg aus dieser Begegnung entstehen wird? Wenn ich es wüßte, ich würde nicht schreiben...