Der "Umwelt" eine Lanze brechen

Ich habe an mir eine verblüffende Erfahrung gemacht: Ich lese sehr gern. Zugegeben, so ungewöhnlich ist das auch heute nicht. Und mein Beruf bringt das Lesen einfach mit sich. Also korrigiere ich mich und schreibe:

Die verblüffende Erfahrung ist eine andere:

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Ich lese vielfach Dinge, die ich gar nicht lesen muss, um nicht Dinge zu lesen, die ich eigentlich lesen muss.

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Ganze Bücher habe ich zuweilen durchgearbeitet und den einen Aufsatz, den ich im Vorfeld als wesentlich erachtete, bis zum Schluss ausgelassen. Ich betrachte also oftmals lieber die Umwelt dessen, worauf ich mich eigentlich konzentrieren müsste. Ganz am Ende dann beuge ich mich meinem Schicksal, seufze innerlich: „Nun denn, wenn es denn sein muss“, und so lese ich den von mir von Anfang an ausersehenen Aufsatz. Manchmal habe ich mich schon gefragt, warum das so ist, lieber die Umwelt zu inspizieren und den Anlass des Interesses auszusparen, der mich dieses oder jenes Buch überhaupt nur hat aufschlagen lassen.

Es ist doch verschenkte, kostbare Zeit. Aber stopp: längst weiß ich und bin durch meine gemachten Erfahrungen eines besseren belehrt, dass die Zeit gar nicht verschenkt ist, denn wie oft bin ich dadurch auf Autoren und deren Gedanken gestoßen, die mir namentlich zuvor nicht bekannt waren oder nicht so wichtig mir schienen und die zuweilen ihre sehr eigenen, interessanten Wege gingen.

Mein Blick, der so zielstrebend auf einen Aufsatz, auf eine bestimmte Idee gerichtet war, wurde abgelenkt und neu sortiert.

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Wie bin ich dankbar dann gewesen für die Ablenkung in dem doppelten Sinne des Wortes:


1. Jene Textumwelten bieten mir lustvolle Kurzweil, wo die Pflicht mich sonst gerufen hätte (und wer lässt sich schon gerne von der Pflicht rufen).

2. Sie weisen mir einen Schritt vom Wege, der Spannung verheißt und ausgetretene Pfade verlassen hilft (Für Abenteuer ist man doch immer zu haben, oder etwa nicht?).


Das Entäuscht werden bzw. das Auf-die-Nase-fallen ist dabei nicht ausgeschlossen, doch das Immer-auf-dem-gepflasterten-Wege-gehen bleibt auf Dauer recht langweilig und eignet sich nur, ein braver Jünger von was auch immer zu werden, die oftmals ihre einmal angeeigneten Wissenswelten dogmatisch verteidigen (von einigen war in dieser Woche hier und da die Rede).

Der gerade, der zielstrebig eingeschlagene Weg ist oftmals gar nicht der bessere, er lässt Abzweigungen und Alternativen nicht recht ins Blickfeld rücken und manchen anderen, der sich vielleicht lohnte, auslassen; er lässt nur an das dieses eine Ziel denken, an dem ein vermeintliches Lebensglück hängt, würde es nur erreicht, und wie viel Lebensglück wird dabei an der Seite achtlos liegen gelassen. Ich mag Umwelten, sie bieten so viel Inspiration für so manches andere Ziel, außerdem sind sie mit ihren kleinen und großen Abenteuern spannend zu gehen.


Bei Re-Lektüre liest sich das - ehrlich gesagt - wie das „Wort zum Sonntag“. Streich ich das wieder? Nö – genau das ist ja auch, ein Wort zum Sonntag: nämlich So., den 05.03.06

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Fazit: Ich finde, man sollte (nicht nur bei Zugfahrten) der Umwelt eine Lanze brechen. Umwelten bringen so wunderbar viel Unordnung ins System! Großartig!

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Jetzt ist diese Woche schon rum. Mit dieser Rubrik habe ich für mich auch Neuland, einen neuen Weg betreten und eine neue Erfahrung gemacht. Als ich ursprünglich gefragt worden bin, ob ich mich beteiligen möchte, dachte ich: Warum nicht?, und hatte gleichzeitig ein Gefühl, das mich zur Vorsicht mahnte. Die Vorsicht gründete darin, weil andere Aufgaben mich drängten und ich mich fragte, ob die Zeit mir dazu bliebe. In Neudeutsch: Ich fragte mich, ob mein „Zeitmanagement“ dies zuließe. Nun – zu sehen ist, die Zeit war da (lange Zugfahrten und ein langlebiger Akku sind ideal dazu!!!), und andere Schreibarbeiten haben auch Gestalt angenommen. Wozu diese neue Erfahrung gut ist? Keine Ahnung – aber Spaß hat es gemacht, und gefreut habe ich mich schon über jeden Kommentar, der eingetrudelt ist. Denn sonderbar, aber eben auch spannend ist es schon, so ins virtuelle Nichts zu schreiben und zu wissen, dass dort Leser lagern und lauern, die prinzipiell – und anders als beim Buch – jederzeit sich einschalten könnten, wenn sie nur wollten. (In die Tausende sollen sie gar gehen. Man glaubt es fast nicht.) Nun gut, die meisten wollten nicht, das war zu erwarten, aber die wenigen haben mir schon viel Freude gemacht, danke also.

Insgesamt war es also wieder eine neue Umwelterfahrung, die zu was auch immer gut sein mag.