Der Traum vom systemischen Lektor

Wie ich letzte Nacht so unruhig daliege und mich hin und her wende, weil mir fürs Weblog partout kein gescheites Mittwochsthema einfallen will, wie ich dann so hin und wieder aufstehe und in sowohl neuesten als auch älteren Publikationen von Auer blättere, um die eine oder andere Anregung zu finden – aber vergeblich; auch nicht die „MiniMax-Interventionen“ halten ein Mittelchen für mich bereit, und das „Ha-Handbuch“ verdrießt mich diesmal eher, als daß es mich ergötzt (es verleitet mich nur zur halbherzigen Erfindung von unbeholfen therapierelevant sein wollenden Lektorenwitzen) –, ich also wieder das Nachtlager aufsuche: Da schlafe ich dann doch urplötzlich und schnurstracks ein und tauche delphingleich in den erlösenden Traum hinein. Ich kann ihn eins zu eins weitererzählen:


Ich bin auf dem Jahrmarkt und sehe vor einem Zelt einige bunte Gaukler und Gauklerinnen einen abgezirkelten Tanz aufführen, bei dem sie von Zeit zu Zeit auf die Neonschrift über dem Zelteingang deuten: „Der systemische Lektor bei der Arbeit!“ Dabei lachen sie immer wieder rhythmisch und fröhlich. Ich betrete das Zelt, nehme auf einer der Bänke Platz, die wie im Zirkus angeordneten Bänke füllen sich erstaunlich rasch, das Licht im Zelt erlöscht langsam, während die Bühne nun ertrahlt: das Arbeitszimmer des systemischen Lektors! Der Lektor (ich erkenne mich selbst!) sitzt an seinem Schreibtisch, vor sich ein Manuskript. Der Autor (den kenne ich ja auch!, aber ich sage natürlich nicht, wer es ist) betritt das Zimmer.


*Lektor:* Nehmen Sie doch bitte Platz.


*Autor* (setzt sich).


*Lektor* (greift zum Manuskript): Nun, Ihr Manuskript ...


*Autor:* Sie haben es gelesen?!?


*Lektor:* Nein, nein, das wäre ... zu früh. (Wiegt das Manuskript, das sich noch im geschlossenen Umschlag befindet, in der Hand.) Ich schätze mal: so 280 bis 290.000 Zeichen?


*Autor:* Ah ... ja?


*Lektor:* Macht so etwa 320 Manuskriptseiten?


*Autor:* Ja, ähm, 317, glaube ich. Ohne Literaturverzeichnis.


*Lektor:* Aha! Und das Literaturverzeichnis?


*Autor:* Na ja, noch mal so knapp 20 Seiten ...?


*Lektor:* 20 Seiten – das ist viel!


*Autor:* Viel? Aber ich hab’ fast alles gelesen ... also vieles ... also, beinah das meiste ...


*Lektor:* Ja, schon, dazu später. Ich meine jetzt: Das sind viele Seiten für so manche Fehler! Haben Sie denn wenigstens die Konventionen eingehalten?


*Autor:* Konventionen?


*Lektor:* Der Verlag hat Ihnen doch seine Konventionen für die Gestaltung des Literaturverzeichnisses mitgeteilt? – Haben Sie denn eine auch nur leise Vorstellung davon, wie viele Stunden der Lektor und der Setzer brauchen, bis sie allein das Literaturverzeichnis veröffentlichungsreif hinkriegen, weil Sie sich nicht an die Konventionen gehalten haben? Von den anderen Versäumnissen ganz zu schweigen?


*Autor:* Andere Versäumnisse?


*Lektor:* Na ja, falsche alphabetische Reihenfolge, falsche Jahreszahlen, falsche Seitenzahlen, falsche Orte, falsche Verlage, falsche Vornamen, falsche Titel, falsche Nachnamen ... nicht zu reden von falschen Kommas, Strichpunkten, Doppelpunkten, Klammern – und das ist nur das Literaturverzeichnis. Im Text selbst wird dann auch noch oft falsch zitiert sein, verstehen Sie, auch das im Literaturverzeichnis eigentlich Falsche wird dann oft noch so verdreht, daß es manchmal fast schon wieder insgesamt richtig ist, obwohl es natürlich, streng genommen, falsch zitiert ist. Verstehen Sie: je mehr Unachtsamkeit des Autors, desto verrückter das freche Spiel des Zufalls.


*Autor* (möchte etwas sagen, weiß aber nicht, was).


*Lektor:* Aber was halten wir uns lange mit dem Literaturverzeichnis auf! Gehen wir doch einmal zum Text. 317 Seiten, sagen Sie?


*Autor* (nickt).


*Lektor:* Okay, dann würde ich mal sagen (wiegt das Manuskript noch mal in der Hand, legt es auf den Schreibtisch zurück, läßt seine Hand sanft darauf liegen) – okay, dann würde ich mal sagen, pro Seite im Schnitt 5 Kommafehler, 8 sonstige Rechtschreibfehler, na ja, wenn Ihnen das lieber ist: *Tipp*fehler, ferner 1 leichte und 2 grobe grammatische Unstimmigkeiten nebst 1 wirklich pfundsdicken Patzer, 3 stilistische Unebenheiten, 1 bis 2 inhaltliche Verwirrungen, ebenso viele Textkohärenzfehler, jede 3. Seite 1 falsche Numerierung, jede 4. Seite ein leichter und jede 11. Seite ein gravierender Denkfehler, alle 5 Seiten ein falsches Zitat, dazu die unplausiblen Gliederungen, die schadhaften Aufzählungen, die ermüdenden Wiederholungen, weil Sie ja Textbausteine verwenden ... Verwenden Sie Textbausteine?


*Autor:* Ja ... manch...mal.


*Lektor:* Sehen Sie, gegen die Verwendung von Textbausteinen ist ja auch gar nichts einzuwenden, prinzipiell, im Gegenteil, es ist schlau, sie einzusetzen, man muß manchmal dann nur ein bissel schauen, wo sie sich überall einnisten dann halt, nicht wahr? Aber lassen Sie mich zu Ende rechnen. Das macht dann 5 mal 317 ist gleich 1585 Kommafehler, 2536 sonstige *Tipp*fehler ... Na ja, Sie sehen schon: Sie haben sich da ja einiges aufgehalst!


*Autor:* ... ja ...


*Lektor:* Aber – erst mal Schwamm drüber! Ich habe ja auch nur den Schnitt erwähnt. Vielleicht, wer weiß, liegen Sie ja besser als der Schnitt. Ich halte das (streicht über das Manuskript) für ganz und gar nicht ausgeschlossen! Und schauen Sie, wir wollen uns ja nicht in erster Linie auf das konzentrieren, was Sie vielleicht alles noch nicht so ganz richtig gemacht haben. Wir wollen doch erst einmal würdigen, daß Sie überhaupt so ein umfängliches Manuskript zustande gebracht haben! Respekt!


*Autor* (nickt).


*Lektor:* Sie sind doch kein defizitärer Mensch!


*Autor* (schüttelt den Kopf).


*Lektor:* Sie haben doch gewaltige Ressourcen!


*Autor* (nickt).


*Lektor* (streicht entschieden über das Manuskript): So ein Manuskript! Hah!


*Autor* (nickt).


*Lektor:* Das will erst mal geschrieben sein!


*Autor* (nickt).


*Lektor:* Das muß man ja auch erst einmal alles im Kopf haben! Und dann alles wohlsortiert hinschreiben! Und dann überarbeiten und überarbeiten und überarbeiten! Das will doch was heißen!


*Autor* (nickt).


*Lektor:* Na, sehen Sie! Das kriegen Sie schon hin. Haben Sie Familie?


*Autor:* Bitte?


*Lektor:* Familie!


*Autor:* Ähm, ja, verheiratet, zwei Kinder.


*Lektor:* Aha, und was sagt Ihre Frau zu Ihrem Manuskript?


*Autor:* Meine Frau ... ja, die interessiert sich eigentlich nicht dafür!


*Lektor:* Was! Nein, so! Wir sollten Ihre Frau zur nächsten Sitzung einladen. – Aber sagen Sie mal ... angenommen, Ihre Frau hätte das Manuskript gelesen ... was würde sie wohl dazu sagen?


*Autor:* Ja ... wissen Sie, ich glaube nicht, daß meine Frau das Manuskript lesen würde ... und insofern ... kann ich mir, verstehen Sie, nicht vorstellen, was sie sagen würde, wenn sie es gelesen *hätte*, denn ... sie *hätte* es ja nicht gelesen ...


*Lektor* (schweigt).


*Autor:* Wissen Sie ... meine Frau interessiert sich eigentlich ... für nichts, was ... was ich tue ... Spätestens, seit sie glaubt, daß ich ... und das geht schon lange ...


*Lektor* (schweigt).


*Autor:* Also, sie glaubt schon lange, daß ich was mit meiner Sekretärin hätte ... aber ...


*Lektor:* Aha, und was sagt Ihre Sekretärin zu Ihrem Manuskript?


*Autor:* Die ... weiß gar nichts von dem Manuskript. Der habe ich immer gesagt, ich müsse mich um meine Familie kümmern.


*Lektor:* Das war gelogen.


*Autor:* Ja. Aber meine Frau habe ich nicht belogen. Ich hab’ ihr immer gesagt, ich müsse arbeiten. Ich hab’ mir ein möbliertes Zimmer gemietet und dort heimlich gearbeitet.


*Lektor:* Gut. In jedem Fall aber sollten wir auch ihre Sekretärin zur nächsten Sitzung einladen.


*Autor:* Um Himmels willen!


*Lektor:* Aber, aber, wir sind doch beide so sehr fürs Systemische, nicht wahr?


*Autor:* Ja ... wenn Sie meinen ... Aber wenn schon ... da wäre noch ein Punkt ...


*Lektor* (schweigt).


*Autor:* Meine Vermieterin ... die hat immer morgens, wenn Sie mein möbliertes Zimmer aufgeräumt hat, in meinem Manuskript gelesen ...


*Lektor:* Und?


*Autor:* Sie findet es spannend!


*Lektor:* Aha! Auch einladen!


*Autor:* Oje. Oje. An meine Schwiegermutter darf ich gar nicht erst denken!


*Lektor* (schweigt).


*Autor:* Die ist zufällig mit meiner Vermieterin bekannt, und die hat ihr alles erzählt. Und meine Schwiegermutter beschwört mich jetzt, meiner Frau bloß nicht zu sagen, daß ich sie mit einem Manuskript betrogen habe, das würde sie nicht verkraften. Ich solle lieber die Affäre mit meiner Sekretärin gestehen. Dann würde meine Frau einen Tobsuchtsanfall kriegen, die Sekretärin eine verdammte Schlampe schimpfen und mich einen herumhurenden widerlichen Nichtsnutz – doch schließlich könnte sie das verkraften und mir am Ende unter viel Trara verzeihen. – Aber ich habe doch gar keine Affäre mit meiner Sekretärin! *Die* hätte nur gern eine mit *mir*! Ach was, die will mich heiraten!


*Lektor:* Aha, ich seh’ schon: Schwiegermutter auch einladen! – Im Sinne des Systemischen: Müssen wir noch wen einladen?


*Autor:* ... ja ... vielleicht meine Kinder. Die haben alles spitzgekriegt und erpressen mich zwiefach, also wegen meiner Frau *und* wegen meiner Sekretärin ...


*Lektor* (notiert): Okay, Kinder auch einladen. – Wissen Sie, im Grunde sind das alles Ressourcen. Sie müssen nur den richtigen Dreh finden, dann können Sie das auch so sehen, dann können Sie sie prima für sich nutzen!


*Autor:* Ja. – – – Dann wär’ da noch was ... noch eine ... ähm ... Ressource, aber das war’s dann auch wirklich. Also, die Tochter meiner Vermieterin hat mir letzte Nacht meine sämliche Sekundärliteratur geklaut! Sie will 2000 Euro, sonst schickt sie die ganzen Bücher einzeln an meine Frau, jeden Tag eins. Ah ja, und dann hat sie noch auf den Zettel geschrieben, ihr Freund sei nicht unkundig im Knacken von Paßwörtern et cetera, vielleicht wolle ich mal darüber nachdenken ... Ach!!!


*Lektor* (notiert): Tochter der Vermieterin einladen und deren, ah, ihren, ah, der Tochter Freund auch.


*Autor:* Ja ... oje, oje, oje ... und was ist nun mit meinem Manuskript?


*Lektor:* Eigentlich wollte ich Sie erst noch fragen, was die Tocher der Vermieterin darüber denkt, daß ihre Mutter ... aber später. Erst mal zu Ihnen zurück. Also, na, was das Manuskript betrifft, da machen Sie sich mal keine Sorgen, Sie sehen ja, wir beobachten es streng von allen erdenklichen Seiten! Das kriegen wir schon hin. Und bedenken Sie: Was Sie alles ertragen mußten – und dann doch mit dieser zähen Geduld und diesem unbeugsamen Schaffenswillen dieses doch sehr stattliche Manuskript zustande gebracht! Um Sie ist mir nicht bange! Keine Frage! Sie werden mit meiner lektorlichen Hilfe aus Ihrem Manuskript so ein 1a Buch machen, daß Sie Ihre helle Freude dran haben werden! (Streicht über das Manuskript.) Aber zuvörderst muß ich die nächste Sitzung vorbereiten. Das Manuskript nehmen Sie am besten erst einmal wieder mit, Sie können ja schon mit dem Überarbeiten anfangen, ich habe Ihnen doch bereits einige Winke gegeben? Lassen Sie sie auf sich einwirken, stellen Sie sich ihnen, entzünden Sie Ihre Kreativität an ihnen, lassen Sie Ihre Kreativität sprühende Funken daraus schlagen! – Sie sind doch kreativ?


*Autor:* Freilich. Klar!


*Lektor:* Gut! Also, ich sage mal, wir sehen uns in zwei Wochen dann alle zusammen hier bei mir. Denken Sie doch auch schon mal darüber nach, was Ihre Frau denn nun wirklich sagen würde, wenn Sie das Manuskript tatsächlich gelesen hätte in der Zeit, in der Sie sie – quasi mit der Sekretärin betrogen haben! Vor allem aber: Kopf hoch! Und: Besinnen Sie sich auf Ihre Ressourcen! –


Bühne schlagartig dunkel, ergriffenes Schweigen, während das Wort „Ressourcen“ verebbend nachhallt, dann aufbrandender Beifall, Licht im Zelt wird sanft hochgedimmt. – – –


Der Traum zeigt: Auch *systemische* Lektoren verrichten Schwerarbeit. Aber: eleganter!