Der Tanz zwischen Frau und Mann

Aufgeregt saß ich vor zwei Wochen im Flieger nach Moskau - nein, keine Flugangst – eher Unsicherheit, was mir dort begegnen wird:

Erst einmal werden es 14 russische Ehepaare sein, die mich und meine Frau Tanja dort erwarten. Sie wollen den Tango Argentino tanzen lernen und ganz nebenbei auch etwas über ihre Art des Miteinander-Tanzens im Zusammenleben erfahren – ganz so wie wir unseren Gastgebern Svetlana und Alexey angeboten haben, und die jetzt diesen Workshop anbieten und uns als Referenten eingeladen haben.

Mit welchen Geschichten und Bildern werden diese Paare ihr Leben gemeinsam meistern? Es sind gerade mal 15 Jahre seit der westliche Wind über den roten Platz weht. Was ich gelesen habe klingt stark nach alten Rollenbildern: der russische Mann hilft der Frau in den Mantel, aber nicht im Haushalt und in der Kindererziehung. Abtreibung sei an der Tagesordnung, oft unter unwürdigen Verhältnissen in den Kliniken wegen Raum- und Personalmangel. Gleichgeschlechtliche Sexualität ist als ein Tabuthema beschrieben worden und das Internet sei voll von Anzeigen russischer Frauen, die gern einen europäischen Mann heiraten möchten. Viele russische Männer würden mehr den Wodka als ihre Familie lieben und die Frauen hielten Russland am Funktionieren. Mit diesen Beschreibungen im Kopf lande ich mit meiner Frau in Moskau…


Was ich dort erleben durfte ist zwiespältig, kompliziert, tief emotional und voller Lebensfreude und dazu kam eine Gastfreundlichkeit, wie ich sie hier in Deutschland nicht kenne. Ich lernte Russland lieben. Als ich Svetlana und Alexey sagte, ich sei nur 80-prozentig was mein Perfektionismus in der Arbeit angehe, lachten beide. Ach die Deutschen, die sind sogar in ihrem Nichtperfekt-sein noch perfekt. Für einen Russen wäre es undenkbar sich auf eine Zahl festzulegen. Da gäbe es so etwas wie um die Mitte herum oder etwas darüber oder etwas darunter...


Im Seminar zeigte es sich, dass die meisten Frauen sehr offen über ihre Problematik und ihre Freuden in ihrem Eheleben sprachen; die Männer hingegen beteiligten sich alle mit Allgemeinformulierungen an den Gesprächen und auf direkte Fragen (Worüber freut sich deine Frau am meisten? Was trägt dazu bei, dass ihr schon so lange zusammen seid ?) blieben sie konsequent allgemeingültig. Nunja, dachte ich, vielleicht habe ich noch nicht genug den Kontext miteinbezogen – vielleicht sind sie von ihren Frauen hierher verschleppt worden – vielleicht sind sie es nicht „gewohnt“, so direkt über ihre Ehe befragt zu werden…? Nachdem Tanja und ich am ersten Abend die Männer und Frauen trennten – Tanja lädt immer in solch einem Seminar die Frauen in ein Frauenzelt ein und ich die Männer zur Erotikbar – klärten die Männer mich auf: „Du musst wissen, früher haben wir einen Witz gemacht: Wenn der Staat dich fragt, wie du mit deiner Frau schläfst und du sagst, du liegst unten, so wird dir das so ausgelegt, dass du dich unterdrücken lässt. Wenn du sagst, du liegst oben, so heißt es, du unterdrückst. Sagst du, du liegst gern dabei auf der rechten Seite, so bist du eindeutig rechts und wenn du die linke Seite bevorzugst, so kann dir das als zu links ausgelegt werden. Und wenn du gar sagst, du onanierst, so kommst du gleich in Arrest, wegen Verschwendung volkswirtschaftlichen Samenguts. Also sprich aber sag nichts !


Die Frauen erzählten, die sozialistische Gleichberechtigung, sei eher eine Gleichverpflichtung gewesen. Die gleichen Arbeiten ohne Rücksicht auf physiologische Gegebenheiten sei von ihnen erwartet worden und das bei einer geringeren Entlohnung und gleichzeitigen Erwartung für die Kindererziehung und Haushaltsführung zuständig zu sein. Es gäbe Männermangel in Russland und eine Frau der 2. und 3. Generation, so die Frauenrunde im Frauenzelt, die keinen Mann habe, ist bei vielen keine richtige Frau. Außerdem würde eine Frau mit Kindern heute nicht vom Staat unterstützt; all dies müsse auf privater Basis zu regeln sein - also vom getrennt lebenden Mann oder von den Eltern, bei denen heute noch viele Ehepaare leben.


So tanzten wir mit den Paaren und sie mit uns, doch wir wollten mehr den russischen Paaren beim Tanzen zusehen als mitzutanzen.

In den therapeutischen Sequenzen lehnten viele Männer ihre Väter einerseits ab - sie wurden geschlagen oder erlebten schwierige Auseinandersetzungen der Eltern mit, in denen der Freund Alkohol freudig mitmischte – andererseits gaben sie an, große Achtung vor dem Vater zu haben, denn der Vater sei der Hüter der Familie. Wir durchtanzten viele Lebensgeschichten, die die Väter und deren Väter durchlebt hatten, um diese ihre Geschichte heute in einem neuen Licht zu sehen, freundlicher und mit Zuneigung, aber auch viel mit Trauer.


Diese Männer tanzten nach solch therapeutischen Sequenzen den Tango viel weicher. Sie wanden sich ihren Frauen zu, gingen auf sie ein und ließen ihnen Zeit für ihre Schrittfolgen - zum Beispiel beim schwierigen Ocho, einem Schritt, der wie eine Acht aussieht. Sie mussten vielleicht nicht mehr so bestimmend sein, wenn sie im Tanz führten. Auch blieben sie gelassener beim Scheitern; sonst hatten sie sich schnell hinsetzen wollen, wenn sie das Gefühl hatten, sie verstünden gerade gar nichts mehr und waren voller Selbstzweifel. Jetzt machten sie eine Pause und kündigten das an: „Ich tanze gleich weiter. Give me a break! Ich brauche das.“


An dem Abschluss, dem Tangoball gibt es immer ein Ritual, sozusagen eine Eintrittszeremonie: der Mann schenkt seiner Frau noch einmal sein Herz an diesem Abend – als Eintrittskarte gibt es von uns ein Herz, das von einer Folie zu ziehen ist und das der Mann mit der Erlaubnis der Frau an eine Stelle bei ihr seiner Wahl kleben darf. Viele russische Männer hatten Mühe die Folie abzuziehen und ganz schnell waren ihre Frauen „bei der Hand“ es ihnen abzunehmen. Doch mein leiser Protest hielt sie zurück. Für mich war dies gleichzeitig ein Bild, das viele Situationen spiegelte. Viele Frauen nahmen ihren Männern im Workshop so manches ab. Immer wenn diese zu scheitern drohten.


Die meisten von diesen Frauen waren ihren Müttern in den therapeutischen Arbeiten sehr zugewandt, sie litten mit ihnen. Sie waren ihnen einerseits solidarisch, wegen des schweren Lebens, das all diese Mütter und Großmütter zu meistern hatten und anderseits waren sie ihnen auch ein bisschen böse, weil sie sich von den Ehemännern entwürdigen ließen. Die Frauen heute waren einerseits von ihren Männern ebenso wieder enttäuscht, und schienen anderseits ihnen sehr zugewandt und kümmerten sich ausgesprochen sorgend um sie. Mir ist das Bild noch gegenwärtig, als eine Frau ihrem Mann immer das Kissen hinter den Rücken legte, als dieser sich setzte. Im Verhältnis zu deutschen Frauen schienen sie dazu "verdammt" zu sein, aufgrund ihrer wirtschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Abhängigkeit sich außerordentlich gut arrangieren zu können – oder zu müssen.


Wir, die russischen Paare und Tanja und ich, das deutsche Paar, kamen jeweils aus einer anderen historischen Geschichte und wir trafen uns jetzt hier in einer gemeinsamen (westlich-russischen) Zeit. Auf dem roten Platz leuchtet nach wie vor oben auf der Spitze eines grünen Gebäudes der rote Stern in den Himmel und hinter ihm auf einem Hausdach leuchtet groß eine Coca Cola Werbung. Wenn ich den richtigen Blickwinkel traf, konnte ich im ersten O von Coca Cola den roten Stern sehen…

Tanja meine Frau sagte, als wir anschließend noch eine Woche durch Moskau wanderten: „Wir glauben uns hier in der gleichen Gegenwart zu treffen, doch hat jeder eine andere – die Gegenwart ist doch nicht die gleiche. Ich vergesse das immer wenn wir Streit haben“.

„Beim Erlernen der Fremdsprache Englisch habe ich auch viel mehr über die deutsche Sprache erfahren als im Deutschunterricht“, war meine philosophische Antwort.


Noch halb im Flieger sitzend sind das meine Gedanken. Ich habe einmal gelesen, dass Reisen das Leben verlängere. Ich weiß noch gar nicht so recht, was ich alles dort gelernt habe. Ich muss wohl erst mal sortieren.

Nächstes Jahr gehen wir wieder hin....