Der Kontext erwarteten Tötens

Was bringt einen Soldaten dazu, nachts um zwei bewaffnet seinen Stützpunkt in der Nähe von Kandahar zu verlassen, um in die Wohnungen afghanischer Zivilisten einzudringen und 16 Menschen (darunter neun Frauen und drei Kinder) zu erschießen und einige andere zu verletzen?


Erklärbar ist dies m.E. nur durch die Veränderungen, die der Status des kämpfenden Soldaten auf psychischer Ebene – d.h. für mich hier vor allem: im Blick auf die Selbstbeschreibung und die als erlaubt und verboten konzipierten Entscheidungsprämissen und Handlungsspielräume – zur Folge hat.


Soldaten dürfen, ja, müssen tun, was normalen Menschen verboten ist: töten. Während sie solche Taten sonst aus der Gemeinschaft ausschließen (=Exkommunikation und Bestrafung bis hin zur Todesstrafe), wird im Krieg dieses Verhalten erwartet. Das hat Folgen für die Identität des Betreffenden.


Soldaten sind – das gehört zu dieser Rolle – nicht frei in ihren Entscheidungen, denn sie sind Mitglieder einer totalen Institution, innerhalb derer sie Entscheidungen anderer auszuführen haben. Sie können auch nicht zwischen Privat- und Arbeitsleben unterscheiden. Sie sind 24 Stunden am Tag Soldaten. Wenn sie im Krieg Greueltaten begehen, die für Normalmenschen nicht nachvollziehbar sind, dann berufen sie sich deshalb nicht ganz zu Unrecht oft auf Befehlsnotstand. Dass ist zumindest seit jeher die Begründung für solche Taten, wenn sie denn jemals vor Gericht verhandelt werden. Sie haben immer nur Befehle befolgt...


Doch zu solchen juristischen Klärungen kommt es nur selten, weil fast alle Staaten ihre Soldaten außerhalb der üblichen Gerichtsbarkeit stellen (deshalb unterschreiben die USA auch nicht die Abkommen über den internationalen Gerichtshof, und deshalb streiten sich die Italiener und die Inder im Moment darum, ob die beiden italienischen Soldaten, die – hier gehen die Verortungen der Ereignisse beider Nationen bzw. ihrer Regierungen auseinander – in internationalen (bzw. indischen) Gewässern auf vermeintliche Piraten geschossen haben, aber offensichtlich mehrere der Piraterie unverdächtige Fischer getötet haben).


Dass der US-Sergeant auf Befehl gehandelt hat, dürfte wohl auszuschließen sein. Ganz im Gegenteil: Hier scheint es so, dass ein Soldat das gemacht hat, was von ihm außerhalb dieses speziellen Kontextes – als Zivilist – erwartet worden wäre: (Nein, nicht das Töten.) Er hat Eigeninitiative entwickelt, sein eigenes Projekt gestartet...


Dass er als psychisch gestört diagnostiziert werden wird, scheint mir vorhersehbar und richtig: Psychische Störungen kann man m.E. als Unfähigkeit, soziale Kontexte zu unterscheiden, definieren. Trotzdem dürfte die Zuschreibung dieser Tat zum individuellen Durchdrehen zu kurz greifen. Denn die Herausforderung für jede Nation, die ihre jungen Männer (und neuerdings Frauen) in den Krieg schickt, liegt in der Unterstützung bei der Bewältigung dieses radikalen Kontextwechsels – aus verpöntem Verhalten wird Gewünschtes... Das bezieht sich nicht nur auf den Wechsel vom friedlichen Bürger zum Soldaten, sondern auch zurück... (vor allem bei letzterem wird kaum angemessen durch Rituale o.Ä. für die Reintegration von Kriegern gesorgt).


Aus afghanischer Sicht sind solche Überlegungen wahrscheinlich vollkommen überflüssig: Hier hat jemand ein schreckliches Verbrechen begangen, und er gehört dafür angemessen bestraft. Jede andere Konsequenz dürfte aus afghanischer Sicht nur einfach verrückt oder bösartig erscheinen.