Der falsche Sohn

L.A., 1928. Walter Collins, 9 Jahre alt, Sohn einer allein erziehenden Mutter, ist verschwunden. Die Mutter (Angelina Jolie mit unerschütterlichem, außerordentlich rotem Lippenstift) versucht die Polizei dazu zu bekommen, nach ihm zu suchen. Auch als ihr dies gelingt, bleibt Walter unauffindbar. Nach fünf Monaten präsentiert die als korrupt bekannte Polizei ein Kind als Walter, der - welche Mutter würde das nicht merken - nicht der richtige Sohn ist. Hätte die Mutter recht, müsste die Polizei bzw. der zuständige Beamte jedoch zugeben, dass die Polizei sich irrt.


Um dies nicht tun zu müssen, wird die Mutter systematisch pathologisiert. Die gut eingespielte Zusammenarbeit von Polizei und Psychiatrie führt zur Zwangseinweisung von Christine Collins.


Soweit die Geschichte, deren weiteren Verlauf ich der Spannung wegen hier nicht erzähle. Für mich waren die Szenen in der Psychiatrie von zentraler Bedeutung. Schließlich habe ich etliche Jahre als Arzt in der Psychiatrie gearbeitet, zwangseingewiesene Patienten "betreut", selbst eine gewisse Zahl von Menschen zwangsweise eingewiesen usw. Hier wird in eindringlicher Weise gezeigt, wie wenig Chancen ein Einzelner gegen die Machtmechanismen von bzw. in Organisationen wie psychiatrischen Kliniken (totalen Institutionen) hat.


Als ich 1974 in solch einer Klinik als Arzt zu arbeiten anfing, war ich überwältigt von der Macht, die ich auf einmal über andere Leute hatte. Was mich so erschreckte und den Genuss der Macht beeinträchtigte, war, dass ich eigentlich keinerlei sachliche Kriterien hatte für meine Entscheidungen, die für meine Patienten schicksalhaft waren. Und mir war dort damals deutlich, dass meine (viel älteren) Kollegen auch nur wenig bessere Kriterien hatten. Dies war - nebenbei bemerkt - einer der Gründe, warum ich mich auf die Suche nach plausiblen Erklärungsmodellen machte, die mir als Orientierungsrahmen für mein Handeln dienen konnten. Und sie führten zu Kommunikations- und Systemtheorie... Die waren deshalb nützlich, weil sie nicht nur auf die Station und mein Verhalten bzw. das der Patienten und aller Mitarbeiter, sondern auch auf die Anstalt (so hieß das damals wirklich noch) als größeres soziales System und gesellschaftliche Strukturen angewandt werden konnten.


Dass mich das alles aus der Psychiatrie heraus geführt hat, ist ja wahrscheinlich nicht zufällig. Aber ehrlich gesagt hatte ich beim Schauen des Films das Gefühl, irgendwie ein Verräter zu sein. Schließlich kümmere ich mich schon lange nicht mehr um die Psychiatrie und weiss gar nicht mehr aus aktueller eigener Anschauung, in welch verrottetem oder begeisternden (?) Zustand sie sich jetzt befindet. In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts waren die Zustände jedenfalls nicht viel anders als im Film gezeigt (rühmliche Ausnahmen seien hier explizit zugestanden).