Dekontextualisierung

Nicht nur die Rasanz, mit welcher in den letzten Tagen und Wochen in Sachen „Neuwahlen“ Worte, Statements, Meinungen, Mutmaßungen und Unwahrheiten in das mediale Orbit geschossen werden, ist eigentlich nicht mehr zu ertragen. Dabei ist das ‚Event’ „Neuwahlen“ nur ein willkommener Teilchenbeschleuniger, der Unterschiede zu machen erlaubt, um Informationen als Selbstzweck zu generieren. Es geht nur noch um diesen Selbstbezug. Beispiel Christiansens Polit-Talk-Show: Ist es nicht abenteuerlich, wie die Gastgeberin permanent mehr oder weniger verstohlen auf die dem Zuschauer unsichtbare Studiouhr schaut, um zu sehen, ob der jeweilige Wortbeitrag innerhalb der sakrosankten 1’30’’ bleibt. Ist es nicht befremdlich, wie nach Überschreiten dieser magischen Grenze gegen alle Diskussions-Spielregeln ins Wort gefallen wird. Mich friert es, wenn ich sehen muss, wie sich die Gäste dies gefallen lassen, wie sie scheinbar willenlos sich dem Diktat beugen und gehorsam dieser Dekontextualisierungs-Strategie folgen.


Ein Statement/ein Wortbeitrag beschießt ein anderes Statement/einen anderen Wortbeitrag – 90 Sekunden hat jeder Show-Teilnehmer für einen Schuss, danach ist Schluss. Was bleibt, sind Nebelkammerbilder. Einen Gedanken entwickeln, Sachverhalte angemessen darstellen und Argumente anführen zu können – all dies gehört der Vergangenheit an, ist mühsam und anscheinend gegen das so genannte Interesse des Zuschauers. Was bleibt: Wort-Splitter, Gedanken-Fetzen, persönliche Verletzungen etc. Das Kriegs-Theater solcher zivilitärischen Auseinandersetzungen gehorcht den selbstverschriebenen Bedingungen des Mediums, welches Regie führt und zugleich instrumentalisiert ist. Was hier passiert, kann man mit Fug und Recht als Kybernetik des Unsinns bezeichnen. Wer keine Kontexte mehr aufbauen kann oder über solche verfügt, erliegt der Raffinesse dieser Aktionaden und bewertet nur noch deren Wert. Dabei ist doch offensichtlich, dass die Art und Weise, wie mit Sachverhalten und Sachfragen umgegangen wird, eine solche Dekontextualisierung systematisch betreibt. 1’30’’ erlaubt keinen Gedankengang, keine Darstellung, keine Erklärung, keine Hintergründe, keine Zusammenhänge.


Diese Taktfrequenz gehorcht der Logik von Baller-Spielen, evoziert Reflexe, aber keine Reflexionen. Vielleicht ist dieses sonntägliche Beispiel nicht banal, sondern exemplarisch für die uns ungewusste Art und Weise, der unsere Wirklichkeitskonstruktionen immer mehr folgen. Wirklichkeitskonstruktionen unterliegen sehr wohl den medialen Gegebenheiten, die sie bedingen. Und das heißt auch: dem Rhythmus und dem Takt, mit welchem Medien den Bezug zu Welten und Wirklichkeiten steuern und regeln.


Böse gesagt: Wir werden das bessere Kaliber, die umfangreichere Munition, die schlagkräftigere Waffe wählen, aber zugleich auch dem besseren Teilchenbeschleuniger und den schöneren Nebelkammerbildern folgen. Noch böser formuliert: Merk(el)t das keiner, diesen Kauder-welsch der Kontextlosigkeit?! Was heißt unter solchen Bedingungen „viabel“?