Das Unausweichliche

Liebe Leserinnen und Leser,


zunächst möchte mich bei den Verlegern und dem Team des Carl-Auer-Verlages bedanken, mich in diesem Forum äußern zu dürfen.


Nun, ich bin zwar Autor bestimmter Artikel in wenigen Sammelbänden, die im Carl-Auer-Verlag erschienen sind. Dennoch stellte ich bei der bisherigen Lektüre der Beiträge in dieser Kehrwoche fest, daß meine Sprache sich etwas von jener mancher „Systemiker“ unterscheidet, mir manche Begriffe mit Sicherheit nicht aus der Feder fließen, die ich in diesem Forum immer lese. Aber scheinbar ist gerade der Unterschied interessant. Soweit, so gut. Ich bin auf auf jeden Fall auf das Echo zu meinen Beiträgen gespannt, sofern es ein wie auch immer erkennbares gibt. Keine Antwort ist natürlich wie immer auch eine Antwort. Ich lade Sie ein, mir auf jeden Fall zu antworten, egal wie diese Antwort im Kontakt zu Ihnen ausfällt.


Ich beginne den Gepflogenheiten dieses Forums entsprechend mit dem, was uns aktuell am meisten bewegt. Dieses Jahr fing für uns einerseits gut und dann auch wiederum nicht so gut an. Wir, meine liebe Frau Heidi und ich haben Sylvester im Kreise lieber Freunde verbracht, hatten Urlaub bis 07.01., um damit anzufangen, „unser“ Buch zu schreiben und bis dahin war alles gut. Dann wollte ich mich mit meinen Geschwistern zu unserem alljährlichen Geschwistertreff zusammenfinden. Am Tag dieses Treffens ist dann mein lieber Bruder Gerhard in den frühesten Morgenstunden nach kurzem Kampf um Leben und Tod mit massiven Krankheitszeichen eines nicht natürlichen Todes und für uns alle zu früh gestorben. Oder gehören Krankheiten wie Herzinfarkt oder Lungenembolie zu unserem natürlichen System, ist ein sogenannter natürlicher Tod eine solchen Ausnahme, daß wir eher in einem Fall eines natürlichen Todes von unnatürlichen, weil seltenen Ereignissen sprechen müssen? Was ist hier noch natürlich? Ist die Gesundheit als das sogenannte „höchste Gut“ zum Mythos geworden, dem wir zwar alle in der Wellness-Bewegung zu fröhnen vorgeben? Ausverkauft? Müssen sich vielleicht Gesunde sogar schämen oder damit rechnen, den Neid der andern zu erregen? Dieses Ereignis mit unserem Bruder prägt natürlich noch jetzt unsere Stimmung, was ich nicht verheimlichen möchte. Die Anteilnahme vieler Freunde und unserer Patienten tröstet, der Verlust bleibt. Unsere Familie hat sich unwiederbringlich verändert. Natürlich steht dieses Ereignis im Kontext vieler anderer Ereignisse in der Familie. Was uns in vielen Aufstellungen wie metaphorisch erschien, steht jetzt als Wirklichkeit vor uns. Welche Wirkungen hat es, wenn wir solche Ereignisse voraussehen? Rückblickend ist immer alles klar, systemisch oder anders betrachtet. Unsere Kontroversen verschwinden angesichts eines solchen Ereignisses. In der tiefen Trauer sind Gefühle nicht mehr verbal kommunizierbar, allenfalls durch unsere Haltung, in unseren Bewegungen oder in unseren Erstarrungen. Als Betroffener fühlt man sich sowohl im Kontakt mit der Familie als auch auf sich selbst zurückgeworfen. Wie wird mein Ende aussehen? Wir wirkt sich der frühe Tod unseres Bruders auf den Rest unseres Lebens aus? Aufstellungen sind Inszenierungen, Therapien sind Inszenierungen, Konstruktionen, konstruktiv oder konstruktivistisch. Inwiefern sind sie Abwehr der Tatsache des Unabänderlichen oder Schrecklichen? Wie darf sich das Unabänderliche und Schreckliche so zeigen, daß es gemäß bleibt?


Unser beruflicher Alltag ist geprägt von Umgang mit Krankheiten. Als Allgemeinärzte sind wir im Vorfeld der schnellen Eingreiftruppe der Notärzte gefordert, zu „reanimieren“. Mittlerweile sprechen wir von „first respondern“, wenn wir die Ersthelfer meinen. Wo bleibt in solchen Fällen die Psychotherapie? Ist das Handwerk des Arztes davon abgehoben, wenn er angesichts des bevorstehenden oder bereits eingetretenen Todes eines Patienten den ihm bekannten psychotherapeutischen Interventionen keinen allzugroßen Erfolg beimessen kann? Vielleicht wagen noch manche Hypnotherapeuten bei den Zeichen von Bewußtlosigkeit ihre Stimme zu erheben. Ist Hypnose in den Fällen lebensbedrohlicher Herzinfarkte oder anderer entsprechender Ereignisse, wie z.B. dem eines Hirnfarktes oder eines apoplektischen Insultes oder einer Lungenembolie noch angezeigt? Wie kommt es, daß selbst solch lebensbedrohliche Ereignisse einen unterschiedlichen psychosozialen Stellenwert haben, indem der Herzinfarkt als jenes Ereignis führt, das den höchsten „Wert“ besitzt? Wie fühlen wir uns jenen Kollegen gegenüber, die in solchen Fällen auf der Matte zu stehen haben, denen dann am Ende noch Kunstfehler unterstellt werden, wenn alles vergebens war? Gestehen wir doch den Organmedizinern in vielen Fällen so wenig therapeutische Kompetenz zu. Warum haben wir nich deren Part gewählt? Allenfalls die Traumatherapie verbindet uns noch mit deren Wirklichkeit, einer psycho-sozio-systemisch-organischen. Wie weit sind diese Welten im Reich der Medizin getrennt? Welche Stimme haben wir bei all dem verkannt, wenn nicht jene der unerbittlichen Gewalt, die sich am Ende auch noch hinter jeder Schönfärberei versteckt und sich so nicht vermeiden läßt, allenfalls zu verkennen ist? Reproduzieren wir am Ende Traumata, um unsere berufliche Existenzberechtigung nicht zu verlieren?


„Diese immer wiederkehrenden Mechanismen der Gewalt aufzudecken und zu durchbrechen ist für Girard die wesentliche Aufgabe der Religion“, Umschlag von René Girard, Das Heilige und die Gewalt.


Was ist uns heilig geworden oder geblieben?


„Trauma beginnt, wenn ich außer Kontakt komme oder außer Kontakt gehe“, Fred Gallo u.a..


Hans Baitinger

Arzt für Allgemeinmedizin, Homöopathie , Psychotherapie

Am Stadtpark 95, 90409 Nürnberg, Tel.: 0911-3651831, Fax: 0911-359299;

Email: ; [Homepage](http://www.baitinger-therapie.de)


Veranstaltungen mit Hans Baitinger, Allgemeinarzt, Homöopathie, Psychotherapie zum Thema Ähnlichkeit:


1. Matthias Ohler und Hans Baitinger organisieren mit den Referenten Fritz B. Simon, Matthias Varga von Kibéd, Achim Kowalczyk, Thomas und Simone Stölzel, Klaus Amend, Thomas Koch und Hans-Joachim Reinecke das Symposium Gesundheit - nicht zu lassen, nicht zu fassen? Symposium zur “Verborgenheit der Gesundheit”

für Praktizierende aller Heilberufe, Betroffene und Interessierte, 31. März – 1. April 2006, in Heidelberg

bitte vormerken oder am besten gleich anmelden! [Homepage](http://www.baitinger-therapie.de)

Fortbildungspunkte der ärztlichen Weiterbildung beantragt!

2. Georg Lück und Hans Baitinger sind die Referenten der Veranstaltung Am Tellerrand der Homöopathie:

des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen am 20.05.2006, 9-18 Uhr in Remscheidt.

Anmeldungen schon jetzt möglich an

Näheres unter [Homepage](http://www.baitinger-therapie.de)