Das Recht zu schmähen

Es gehört m.E. in den Text jeder Verfassung, dass die Inhaber formaler Machtpositionen (und diejenigen, die sie anstreben) öffentlich geschmäht werden dürfen - ohne jede Rücksicht auf Geschmacksgrenzen oder Persönlichkeitsrechte. Das betrifft alle, die bislang durch die Androhung von Strafe wegen Majestätsbeleidigung (bzw. den Nachfolgeparagraphen) vor derartigen Zumutungen geschützt werden. Ob es sich dabei um Kaiser, Könige, Diktatoren, Staats- oder Ministerpräsidenten, Minister, Unternehmer, Topmanager, Führungskräfte aller Art, den Papst, Kardinäle, Bischöfe, Priester und Prediger, Imame, Rabbiner, Propheten, Gott, Jahwe, Allah, das Spaghettimonster oder "jenes höhere Wesen, das wir verehren" handelt, sie alle müssen unbegrenzt geschmäht werden dürfen. Das sollte als grundlegendes Widerstandsrecht weltweit anerkannt werden...


Wohlgemerkt: Das betrifft nicht Privatpersonen, nicht Schüler, die auf dem Schulhof oder auf Facebook gemobbt werden. Sie können sich nicht allein schützen und ihre Schmähung hat keine positive politische Funktion. Aber Hierarchie bzw. Hierarchen müssen radikal in Frage gestellt werden können, weil die Wahrscheinlichkeit, dass dies geschieht, sowieso schon reduziert ist (eben aufgrund der Hierarchie, die Kommunikation verkürzt und eine Oben-unten-Beziehung als gegeben voraussetzt und nicht in Frage stellt).


Die Möglichkeit Machthabern gegenüber Verachtung zu signalisieren, scheint mir ein zivilisatorisches Gut, das nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Verachtungskommunikation ist eine - wenn nicht gar die (!) - Methode, sich über Werte, die in einem sozialen System gelten, zu verständigen und zu streiten. Wer in seinem Verhalten wider die erwarteten und erwartbaren Regeln des Wohlverhaltens  verstößt - und damit gegen die vielbeschworenen Werte, die dort gelten (= Moral) - wird mit Verachtung bestraft bzw. vorher schon: bedroht, und das heißt: mit dem Ausschluss aus der Gemeinschaft.


Dem steht entgegen, dass jeder auch für bestimmte Verhaltensweisen, vor allem, wenn sie nicht einmalig zu beobachten sind, geehrt wird bzw. werden kann. Mißachtung und Hochachtung, Verehrung und Verachtung sind die Regulationsinstrumente, durch welche soziale Spielregeln etabliert und aufrecht erhalten werden. Wenn sich die Grenzen der Verachtung de facto verschieben, dann verändern sich die Werte der Gesellschaft.


Es ist ein Selektionsprozess, bei dem Verachtung/Hochachtung auf Verachtung/Hochachtung stößt. Wer öffentlich seine Verachtung zeigt, riskiert verachtet zu werden usw.


Dass soziale Werte durch die Unterlassung (!) von Verachtungskommunikation verändert werden, betrifft besonders das Verhalten solcher Personen, die im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. So hat Berlusconi zur Verwahrlosung Italiens beigetragen, und es ist zu hoffen, dass Donald Trump, der sich verächtlich über Frauen, Mexikaner, Muslime und viele andere äußert, jetzt öffentliche Verachtung erntet. Es ist allerdings auch zu befürchten, dass er gewählt wird...


Dass die die Verscheisserung von Potentaten (!) und ihren "Klöten" politische Wirkung zeigt, ist nicht nur an der Türkei und Erdogan zu beobachten. Sie würde nicht so streng verfolgt, wenn sie nicht subversive Wirkung hätte. Was in autoritären Systemen meist nur bleibt, ist die "elegante" Kunst, kritische Botschaften zwischen den Zeilen zu verpacken, die leider aber meist nur von denen verstanden werden, die eh schon diese Kritik teilen...