Das chronische Dilemma der Patienten

Livia Haupter


Auch mit den besten systemischen Vorbereitungen und inneren Supervisoren bleibt das Dilemma der Patienten ein Fakt jeder klassischen Arzt/Therapeuten- und Patientenbeziehung, da dieses aus meiner Sicht nach festen Regeln funktioniert. Ich skizziere es so: Der Patient hat ein Anliegen/Problem, wünscht/sucht dringend Hilfe und erhält Zuwendung/Lösung verschiedenster Formen um den Preis, dass der Patient die Hierarchie in diesem Verhältnis anerkennt und sich entsprechend verhält. Der Arzt/Therapeut sitzt in der Regel am längeren Hebel, weil er die Verordnungsmacht besitzt.


Patienten, die sich vor dem Besuch genau überlegen, was ihr Ziel ist, was sie brauchen und mit welchem Rezept, oder auch nicht, sie das Sprechzimmer verlassen möchten, geraten in ein Dilemma, weil es nicht vorgesehen ist, dass ein Patient weiß, was er braucht, und die Gesundheitsreform für das Aushandeln von Möglichkeiten sowieso keine Abrechnungsziffer vorgesehen hat und die Zeit dafür schon gar nicht ausreicht. Gibt sich der Patient bestimmt und klar und sagt deutlich was er möchte oder auch nicht möchte (negative Konnotation könnte man sagen, ein klarer Fall von eigensinnigem Verhalten), erhält er wahrscheinlich nicht die entscheidenden neuen Impulse oder schlimmstenfalls nicht die Hilfe, um die er ersucht.

Gibt er die Verantwortung über den Prozess und Inhalt des Treffens vollends ab, setzt er sich dem Risiko vermehrt aus, dass über ihn hinweg entschieden wird und er die Verantwortung und Folgen dafür später tragen muss. Ein Sowohl-Als-auch, „ein bisschen klar und bestimmt“ und „etwas gottergeben“ scheint bisweilen die richtige Mischung zu sein, birgt aber die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und wieder im entweder „klar und bestimmt“ oder „gottergeben“ zu enden. Dieses chronische Dilemma ist unlösbar (wer eine Lösung gefunden hat, möge uns bitte einen Hinweis geben).


So sehr ich mich als systemische Physiotherapeutin um Offenheit, Transparenz des Tuns, Allparteilichkeit und ausgewogenes Verhandeln von Zielkonstruktionen bemühe, so sehr kann ich es nicht ändern, dass meine Patienten diesem Dilemma trotzdem ausgesetzt sind.


Da auch Therapeuten bisweilen in der Rolle des Patienten unterwegs sind, schildere ich eine eigene wichtige Erfahrung mit einer bitteren Erkenntnis: Gut vorbereitet, weil alle Hypothesen vorher mit meiner inneren Supervisorin besprochen, einen Zettel als Gedankenstütze geschrieben, saß ich im Wartezimmer eines Hals-Nasen-Ohren-Arztes, den ich bis dato noch nicht kannte, weil ich bisher auch ohne gut über die Runden kam. Meine Stimme war weg und heftige Kopfschmerzen plagten mich seit zwei Tagen. Ich wollte ärztlich bestätigt haben, ob ich als Selbständige mit diesen Symptomen weiter arbeiten kann, ohne meine und die Gesundheit meiner Patienten zu gefährden. Kaum kam ich in das Sprechzimmer, der Geruch nach Desinfektionsmittel erreichte trotz meiner verstopften Nase meine Geruchsrezeptoren und ließ mich innerlich schütteln, und der Arzt betrat weiß bekittelt den Raum, verfiel ich in eine Amnesie. Wie das Kaninchen vor der Schlange erstarrte ich, ließ mir in alle Körperöffnungen des Kopfes leuchten, pusten und pinseln und stand wenig später mit einem Rezept im Wartebereich und fühlte mich elender als zuvor. Wie konnte es geschehen, dass ich von der Rolle „klar und handlungsorientiert“ in „gottergeben und leidend“ verfallen war?


Dieser Ausflug mit dem Rollentausch war offensichtlich nötig, um noch besser zu verstehen, was meine Patienten bewegt und wie viel Mut und Selbsterfahrung dazu gehört, ein guter „chronischer“ Patient zu werden bzw. nicht mehr sein zu wollen. Seitdem bin ich bemüht, die Offenbarung dieser Gegensätze als Teil der Kommunikation einzusetzen und so zu tun, als wäre das Dilemma lösbar. Menschen, die mit chronischer Krankheitsattestierung die Rolle als Patient abgeben wollen, finden zu genialen Lösungen, auf die ich nie kommen würde. Ich lerne gerne von meinen Patienten und bin gespannt, wie ich mich beim nächsten Arztbesuch bewähre.