Das Bessere

Heute Abend sind meine Liebste und ich bei Maria und ihrem Mann eingeladen. Bei ihrem letzten Besuch bei uns bat mich Maria, unter anderem Hypnotherapeutin von Beruf, um einen Text, den ich vor vielen Jahren anlässlich einer Weihnachtsgrusskarte zitiert hatte. Sie wolle ihn gerne einer Klientin schenken. Nachdem ich mich auf meine Ressourcen besonnen habe, fand ich den Text; es ist ein Zitat aus dem Neuen Testament (Lukas-Evangelium 10, 38-42).


Alles dreht sich um zwei Schwestern: Martha, die eifrig sorgende und großzügige Gastgeberin und Maria, die sich in enger Nähe zu Jesus setzt und seinen Vorträgen zuhört. Irgendwann wird es Martha zuviel (vielleicht ist es auch Neid), sie spricht Jesus an und fordert ihn auf, dafür Sorge zu tragen, dass Maria sich an der Arbeit als gastgebende Familie beteiligt. Wenn man die Geschichte ohne moralische Unterstellung liest, hört man zunächst die anerkennende Antwort des Therapeuten (Seelsorgers, Meisters) heraus: „Martha, Martha, Du machst Dir viel Sorgen und Mühen!“ Anerkennung von Ressourcen bei Klienten ist ja ein beliebtes Mittel zur Herstellung von Rapport. Gleichzeitig wird sie zur Einleitung einer leichten Trance genutzt. Danach folgt eine erste Suggestion „Aber nur eines ist notwendig.“


Ein systemischer Hypnotherapeut würde vielleicht an der Stelle die Konjunktivform vorschlagen, um die Chance auf Such- und Lösungsprozesse zu erhöhen, etwa: „Aber vielleicht ist nur eines notwendig.“ Und ohne moralische Implikationen (absichtslos) wurde hier vom Meister nicht festgelegt, was er für Martha (!) für „notwendig“ hielt. Beim Coaching von Klienten, welche sich selbst als Workaholics bezeichnen, geht es ja auch zunächst um eine Irritation ihrer Selbstbeschreibung, z.B. in Form eines Angebotes (positive Konnotation, Reframing), um ihre Selbstabwertung zu unterbrechen. Ich halte sog. Workaholics auch nicht für „Süchtige“ sondern für „Asketen“…


Doch weiter im Text: Im Anschluss beschreibt Jesus dann die, aus seiner Sicht angemessenere, Haltung gegenüber Marias Verhalten: „Maria hat das Bessere gewählt, das soll ihr nicht genommen werden.“ Angenommen, es ginge hier nicht um die Familien- oder Psychodynamik der Beteiligten (auch nicht um ein Familienunternehmen oder eine Therapieschule), sondern lediglich um eine alltägliche Re-Orientierung, könnte der Satz auch lauten: „Maria hat *für sich* das Bessere gewählt.“ Besondere Begegnungen verweisen uns ja immer auch gleichzeitig auf ihre Endlichkeit. Und angesichts dessen verstehe ich dies auch als Hinweis, im Augenblick zu leben und die Gelegenheiten dazu zu erkennen.


Die darin enthaltene Spannung zwischen (aktivem) Tun und (kontemplativen) Nichtstun wird nicht nur mir bekannt sein. Ich jedenfalls habe mich heute Morgen, vor der Wahl stehend, zuerst meinen heutigen Beitrag zu schreiben oder im Atelier zu malen, für beides entschieden. Gewissermaßen ist ja beides sowohl als auch: Arbeit und Nichtstun. Innerhalb der anderthalb Stunden im Atelier rief mich eine Koopertionspartnerin für meine Weiterbildung an. Als sie erfuhr, wo sie mich erreichte, meinte sie, ich habe es doch gut: es sei Sonnenschein, ich könne malen und die Kunden würden per Telefon mit Aufträgen winken… (Mein Nichtstuender Anteil sagt mir: „Schön wäre es, wenn das immer so funktionierte.“ Mein aktiver Anteil fragt sich allerdings, ob das wirklich immer so gut wäre. Denn eine gewisse existentielle Spannung ist ja für kreative Prozesse nützlich wenn nicht notwendig…)


Andererseits bin ich dankbar für den Hinweis: ich hatte die für mich „bessere“ Wahl getroffen. Und freue mich schon jetzt auf den Abend…