Chihuahua

Brauche mehr Schlaf, als derzeit ca. 4 Stunden...meine kleine Tochter hat ihren eigenen Kopf. Und schläft gerade. Nie hätte ich gedacht, dass mein Baby meinen Rhythmus so zu verändern vermag...und Schlafmangel führt bei mir zu ganz seltsamen Phänomenen. So bekomme ich seit gestern den Namen Raphael Ravenscroft nicht mehr aus dem Kopf (Saxophonist bei Gerry Rafferty's Baker Street) - Ravenscroft, Ravenscroft. Davor war es Wim Duisenberg, früherer Präsident der Europäischen Zentralbank. Duisenberg - Duisenberg. Ich weiß nicht, was die beiden miteinander zu tun haben...Vielleicht sollte ich dann schlafen, wenn meine kleine Tochter schläft?


Hatte heute nur wenige Minuten, um die Tageszeitung zu durchblättern und das war in der Strassenbahn. Eigne mich auch nicht sehr zum Kommentieren dessen was die deutsche Wahl letztlich bringt. Darum will ich lieber von jener tragischen Begebenheit berichten, die mein Blut in den Adern stockern ließ. Las ich doch: "Chihuahua von Rottweiler angefallen - tot". Mein Gott, das arme Hündchen, mußte ich denken.


Sie können nun freilich über die Qualität der Zeitung rätseln, jedenfalls ein Medium, das objektiv und unparteiisch die Wirklichkeit abbildet. Es handelt sich bei Zeitungsartikeln also keinesfalls um frei (oder auch nur teilweise) erfundene Storys, sondern vielmehr um genaue Beschreibungen der Welt, wobei die Beschreibungen nur dazu dienen, die jeweiligen Sachverhalte in Säckchen zu packen und diese dann über dem Blatt Papier wieder auszuschütten. Mit anderen Worten: Beschreibungen erzeugen nicht die Realität, sondern beschreiben nur etwas, das schon vor der Beobachtung so – und nicht anders – vorhanden war. Wir sind und bleiben schließlich Realist. Obendrein liegt es kaum am Beobachter, wenn einem Chihuahua plötzlich sein Leben abhanden kommt.


Es könnte aber alles auch ganz anders sein: Wir könnten Chihuahuas auch durch den Akt der Beobachtung erzeugt haben! (?). Wenn sie aber einmal da sind (bedingt durch das Sprachspiel „Chihuahua“), dann kann sie eben auch jemand oder etwas „anbeißen“. Das ändert aber, wie mir scheint, alles nichts daran, dass ohne Sprachspielen weder ein Chihuahua existent wäre noch ein Rottweiler.

Wir können uns vielleicht auch eine Kultur denken, in der man mit dem Begriff „ Chihuahua “ etwas ganz anderes meint, vielleicht einen mit Schokolade überzogenen Wurmfortsatz am Steißbein, oder ...


Was bedeutet das nun angesichts der Zeitung? Mit Realität hat diese sehr viel zu tun – sie erzeugt nämlich ihre eigene Realität. Denn irgendein Beobachter (genannt Journalist) beschreibt ihm wichtig oder unwichtig erscheinende Begebenheiten. Sowohl die Begebenheit wie auch die Wahl, was gedruckt wird und was nicht, unterliegt seiner Auswahl (meist haben andere hier noch mitzureden). So kommt es auch nicht selten vor, dass man bei bestimmten Ereignissen den Eindruck hat, als wären verschiedene Dinge passiert (einmal wurde dem Chihuahua die Nase, dann wieder nur das Ohr abgebissen), und nach der Wahrheit sucht. Diese gibt es auch tatsächlich (entweder Nase oder Ohr, vielleicht auch beide – was tragisch wäre, weil dann keiner der Berichterstattungen Recht gegeben werden könnte), aber deshalb ist noch immer beides (sowohl Nase als auch Ohr) unsere konventionelle Realität.


Die Zeitung basiert weiters auf geschriebener Sprache, ohne diese wäre sie gar nicht existent. Wir erzeugen eine Welt, indem wir uns auf bestimmte Linien und Punkte, Striche und Auslassungszeichen geeinigt haben, wir diesen Strichen usw. eine Bedeutung zu geben gelernt haben, sie nach bestimmten Regeln zusammenzustellen gelernt haben. Wenn man nun diese Schriftzeichen so vor sich sieht, könnte man meinen, dass wir mit ihrer Hilfe beim Beschreiben eines Chihuahua tatsächlich nichts anderes tun als das „Namenstäfelchen“ Chihuahua auf eben diesen Chihuahua zu hängen. Wäre dem so, gäbe es Chihuahuas wirklich (wie die Realisten glauben), denn das Hündchen muss eben schon als „C...“ existiert haben, ansonsten wir es nicht behängen hätten können. Woher aber weiß ich, dass der Chihuahua ein Chihuahua ist und nicht doch ein Affenpinscher, dass also das Namenstäfelchen richtig sitzt?


Es stellt sich also die Frage, wie der Name in das Wesen kam. Vielleicht kam es aber auch nie dazu? Möglicherweise war hier nie ein Chihuahua, ohne den Begriff Chihuahua – ergo auch kein Chihuahua, in den man mühsam ein Schriftröllchen schieben musste. Vielmehr war immer schon das Sprachspiel (damit ist nicht das geschriebene Wort gemeint, nicht die Zeichen am Papier oder sonst wo, sondern vielmehr die verkörperte, mündliche, be-griffene Chihuahuaschwingung) mit dem Tierchen innig verwoben. Dass die beiden erst zusammenfinden mussten, ist ja schon wieder eine realistische und dualistische Setzung (hier das Hündchen, und dort der Begriff, der verzweifelt nach seinem Zuhause sucht...). Ich denke jedoch, dass diese dualistische Setzung im abendländischen Denken weit verbreitet ist, von Augustinus („...Ich behielt es im Gedächtnis, wenn Erwachsene eine Sache beim Namen nannten und wenn sie dann diesem Laut entsprechend ihren Körper irgendwohin bewegten. Ich sah das und merkte mir, dass sie mit den Lauten das Ding bezeichneten, das sie mir zeigen wollten.“) bis zu Peirce...(„sign standing for...“) und hinein in die neumodische Entwicklungspsychologie. Vielleicht wäre es aber auch an der Zeit, ihr eine nondualistische Alternative gegenüber zu stellen?


Geschriebene Worte lassen sich auf Objekte hängen (man kann sie als Zeichen verwenden, die Dinge bezeichnen), mündlich artikulierte, verkörperte, begriffene Begriffe lassen sich nirgendwo hinhängen. Sie formen vielmehr die Welt, noch bevor man lernt, dass unsere Sprache die Welt lediglich bezeichnet und bezettelt. Und kleine Kinder sehen das auch noch differenzierter (man denke hier nur an Piagets Beschreibungen des „Realismus der Namen“).


Wenn wir sprechen, gehen wir in die Welt, wir handeln verkörpert in der Welt und gestalten diese im gleichen Moment. Wenn wir schreiben, so formen wir Welten am Papier – wir formen Zeichen, die sich sodann auch zum Bezeichnen eignen, Bezeichnungen, die wir erst durch unser Handeln, durch unsere gelebten Sprachspiele, Wirklichkeit werden lassen.


In der „Welt da draußen“ wimmelt es nur so an Schriftzeichen und regelnden Linien, die wir gezogen haben. Man denke nur an Grenzlinien und Sperrzonen, an Bodenmarkierungen und Hinweisschilder, an Geburtsurkunden, Trauscheine und Eheverträge, an Zeugnisse und Testamente, an jegliche Form der Etikette, an Nummern und Zahlen, an Grafiken und Leuchtreklamen... Das gesprochene Wort hingegen kann erst entstehen, wenn ein Körper-Geist Luft einsaugt und auf bestimmte Weise, durch geschickte Mund-, Zungen- und Gaumenstellungen zu „Lauten“ formt. Es ist also nicht zu trennen von dem formenden Körper, während diese Trennung bei Buchstaben schon viel leichter zu denken ist (jemand malt ein A auf ein Blatt Papier und jemand anderer nimmt ihm das Papier weg).


So ist es auch nicht verwunderlich, dass das Lesen- und Schreibenlernen beim gesunden Menschen nach dem Sprechenlernen erfolgt, denn erst wenn ich weiß, dass es „Papier“ in der Welt gibt, werde ich auch imstande sein, es auf bestimmte Weise zu verwenden, d.h. ich muss zuerst wissen, dass man Papier benutzen kann, um Gedanken darauf festzuhalten.


Die Trennung zwischen beschreibender Sprache und dem Beschriebenen, zwischen dem Begriff „Chihuahua“ und dem „ Chihuahua in der Welt“, vollzieht sich nicht „von Natur aus“, sondern ist eine Folge unserer zivilisierten und alphabetisierten Welt.


Ich glaube, ich brauche wirklich mehr Schlaf...