Brauchen wir ein gesichertes Minimaleinkommen?

Das Thema Arbeitslosigkeit ist seit Jahren ein massenmedialer Dauerbrenner. Das ist nicht erstaunlich, wenn man weiss, welch verheerende Folgen das Fehlen einer Möglichkeit zur Erwerbstätigkeit für Menschen hat, die eine Stelle suchen und nicht finden. Angesichts der Präsenz des Themas im öffentlichen Bewusstsein sieht sich die Politik zu immer neuen Versprechungen und Strategien genötigt, wie man die Arbeitslosigkeit in den Griff bekommen könnte.


Angesichts der grossen Betroffenheit und Aufregung, die das Thema Arbeitslosigkeit hervorruft, bleibt die Sicht in der Regel auf zwei Fragestellungen beschränkt, die eng mit der Behebung dieses Defizits zusammenhängen: Wie kann man neue Arbeitsplätze und Lehrstellen schaffen, und wie kann man Menschen dabei unterstützen, eine Arbeitsstelle zu bekommen? Eine andere Frage wird kaum je gestellt: Gibt es heute und erst Recht in Zukunft genügend Erwerbsarbeit für alle? - Unterschiedliche Überlegungen deuten darauf hin, dass diese Frage eher mit Nein als mit Ja zu beantworten ist: Zum einen ermöglicht die technologische Entwicklung Rationalisierungen von Produktions- und Dienstleistungsprozessen, die über längere Frist durch das Schaffen von neuen Arbeitsplätzen durch die betreffenden Technologiebranchen (z.B. die Computer-Industrie) nicht mehr aufgewogen werden können. Zum andern erstrecken sich die Rationalisierungen, die den ehernen Wirtschaftsgesetzen von Angebot und Nachfrage resp. Profitmaximierung folgen, auch auf nicht technologie-gestützte Prozesse. So wird der Anteil der "produktiven Zeit" in praktisch allen Branchen kontinuierlich erhöht. Es bleibt immer weniger Raum für Pausen und persönliche Kontakte, und die Qualität der Arbeit leidet unter dem Zeitdruck genau so wie die Gesundheit der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Weiter fördert die so genannte Globalisierung die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Regionen mit (für die Produzenten) günstigeren Produktionsbedingungen, wobei die wachsende wirtschaftliche Prosperität von Ländern wie China für viele Unternehmen zusätzlich von Bedeutung ist, weil sie neue Absatzmärkte schafft, was wiederum für das Wachstum der Weltwirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Sodann sorgt die Börse für Möglichkeiten der Kapitalvermehrung, die nicht an die Bereitstellung von neuen Arbeitsplätzen gebunden ist, wie in der Frühphase des Kapitalismus, sondern Arbeitsplätze vernichtet, da die Fusionen immer aus Überlegungen der Rationaliät getätigt werden und die Kosten durch Rationalisierungsmassnahmen reingeholt werden müssen (was oft genug nicht gelingt und zu weiteren Firmenschliessungen und zum Abbau von Arbeitsplätzen führt). Schliesslich kann man sich angesichts der stetig zunehmenden ökologischen Probleme fragen, ob das Wachstum der Wirtschaft - so wichtig es gerade aus arbeitsplatz-relevanten Überlegungen sein mag - auf die Dauer aufrechtzuerhalten ist.


Wie dem auch sei: Müssten wir uns angesichts dieser lediglich skizzenhaft und unvollständig aufgezeichneten, ziemlich trüben Aussichten nicht vermehrt mit der Frage auseinandersetzen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die nur noch für einen Teil der Bevölkerung bezahlte Erwerbsarbeit anbietet? Mittlerweile ist es ja ohnehin so, dass immer mehr Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen ihren Lebensunterhalt trotz Vollzeitbeschäftigung nicht mehr ohne staatliche Unterstützung bewältigen können, weil die Löhne so tief und die Lebenshaltungskosten so hoch sind. In Deutschland wird in gewissen Branchen darüber diskutiert, ob die Wochenarbeitszeit (zum gleichen Lohn) angehoben werden soll, und in der Schweiz wird das Pensionierungsalter kontinuierlich nach oben verschoben. Letzteres ist zwar wegen der nach wie vor steigenden durchschnittlichen Lebenserwartung nachvollziehbar, aber zur Entschärfung der Situation auf dem Arbeitsmarkt trägt die Massnahme genau so wenig bei wie eine Verlängerung der Wochenarbeitszeit. Auch die Jagd nach "Sozialschmarotzern", welche die Leistungen von Sozialhilfe, sowie Arbeitslosen- und Invalidenversicherung unrechtmässig beanspruchen, schafft nicht mehr Arbeitsplätze (ausser bei den Kontrollinstanzen), sondern fördert die Konkurrenz um die wenigen Stellen - ganz abgesehen davon, dass die Aufwendungen für die Kontrollen die eingesparten Gelder bei weitem aufwiegen, da nur ein ganz kleiner Bruchteil der unterstützten Personen die Bezüge unrechtmässig tätigt.


Eine Folge könnte sein, dass man (wieder mal) über die Einführung eines gesicherten Grundeinkommens für jedermann und jederfrau nachdenkt. Wieso soll man Menschen, die sich durch den Arbeitsprozess überfordert fühlen oder aus andern Gründen keiner Erwerbsarbeit nachgehen wollen, zur Erwerbsarbeit verpflichten, wenn das Heer jener stetig wächst, die eine bezahlte Arbeit suchen? Weiter muss man sich überlegen, was die Menschen machen, die keiner Erwerbsarbeit nachgehen; wie kommen sie zu den lebenswichtigen sozialen Kontakten, die an der Arbeitsstelle (wenn auch in immer weniger grossem Ausmass) bestehen und wie verbringen sie ihren Alltag? Sicher gibt es keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Grundsätzlich lässt sich aber vielleicht einmal formulieren, dass die Situation der Erwerbslosigkeit in einer Gesellschaft einfacher werden könnte, in der sich die Menschen nicht mehr primär über die Erwerbsarbeit definieren, wie dies bei uns der Fall ist. 'Arbeitslosigkeit' wäre dann (idealerweise) kein Makel mehr, sondern eine Form, sein Leben zu leben, wie das Leben mit einer Erwerbsarbeit.


Weiter ist es ja auch nicht so, dass es in der modernen Gesellschaft keine Arbeit gäbe. Es gibt haufenweise Arbeit, nur nicht genügend bezahlte. Das eröffnet die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit, Anstrengungen zu unternehmen, Möglichkeiten zur unbezahlten oder nur gering entschädigten Arbeit zu fördern und diese Formen von Freiwilligenarbeit gesellschaftlich wieder höher zu bewerten, als dies heute der Fall ist. Ich bin mir wohl bewusst, dass eine Massnahme wie die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens immense und wohl auch viele nicht absehbare Folgen zeitigen wird. Nur: das ist auch mit dem Rezept des Mehr-Desselben nicht anders. Zur Zeit ist es ja immer mehr so, dass die einen krank werden, weil sie keine Arbeit haben und die andern, weil die Belastung und der Druck bei der Arbeit viel zu gross ist. Die steigenden Kosten im Gesundheitswesen und bei den Sozialversicherung sprechen da eine deutliche Sprache.


Fazit: Es ist für mich unbestritten, dass die Bemühungen um die Sicherung von Arbeitsplätzen weiter verfolgt oder sogar noch intensiviert werden müssen. Ich bin auch davon überzeugt, dass es betriebliche Gesundheitsmanagementskonzepte braucht, welche einerseits die Arbeitsstelle zu einer gesundheitsförderlicheren Umwelt für die Beschäftigten machen und welche andererseits eine gut funktionierende Früherkennung und ein daran anschliessendes 'Disability Management' umfassen, damit möglichst wenige Arbeitskräfte krankheitshalber vollständig aus dem Arbeitsprozess ausscheiden müssen.


Gleichzeitig sollten aber vermehrte Diskussionen über eine Umstellung der gesellschaftlichen Semantik in Bezug auf die Erwerbsarbeit geführt werden. Kurz: Nicht-Erwerbstätige im erwerbsfähigen Alter brauchen ein anderes Image. Sie sollen nicht mehr als Versager und Versagerinnen, sondern als wertvolle, gleichberechtigte Mitglieder unserer Gesellschaft angeschaut werden. Die Entwicklung sieht wir geschildert so aus, dass in Zukunft immer weniger bezahlte Erwerbsarbeit zur Verfügung steht, und es nützt auch nichts, primär die Wirtschaftsunternehmen (mit moralisierendem Unterton) in die Pflicht zu nehmen. Es entspricht nicht der Funktionslogik der Wirtschaft, Arbeitsplätze zu garantieren, auch wenn die Unternehmen bisweilen so argumentieren, um Standortvorteile zu erlangen oder zu erhalten. Wirtschaftsunternehmen stellen nur die Arbeitsplätze bereit, die sie für die Erfüllung ihrer Funktion brauchen, und keinen einzigen mehr: Die zahlreichen Meldungen von Stellenreduktionen durch hoch profitable Unternehmen zeugen davon . Der Staat kann hier (etwa durch die Vorschrift von Behindertenquoten) einzugreifen versuchen, er muss sich aber bewusst sein, dass er an seinen eigenen Grenzen gebunden ist, während Wirtschaftsunternehmen neue Produktionsstandorte suchen können.


Wir brauchen eine neue Semantik der Erwerbsarbeit und neue Ideen - ein gesichertes Minimaleinkommen für alle ist eine davon, aber sicher nicht die einzige.