Beziehungsdidaktik ist Wertschätzungsdidaktik

Heute wissen wir immer mehr, wie illusionär eine Lernvorstellung nach dem Modell der Robinsonade ist. Selbst wenn es disziplinierte Einzelkämpfer gibt, die vor allem das lernen, was ihnen Experten vorgeben, so sind sie keineswegs mehr der Idealfall für eine berufliche Situation mit Zukunft. Und auch rückblickend erkennen wir, dass eine individualisierende Überlebenspädagogik – meist verbunden mit starkem Selektionsdruck – nicht nur individuell Inhalte vermittelt hat, sondern immer auch Beziehungen z.B. in autoritärer Abhängigkeit, die bestimmte Weltbilder und Interessen kulturell vermittelt haben. Oder, wenn wir heutige empirische Schulleistungsforschungen ansehen, dann müssen wir erkennen, dass die sozialen Beziehungen gerade in Deutschland ausschlaggebender für den Schulerfolg sind als etwa Intelligenz oder Durchhaltekraft der Lerner. Die Illusion der Chancengleichheit, in der ein jeder Einzelkämpfer gegen den Rest der Welt dann siegreich sein kann, wenn er nur nach Begabung und Neigungen gewissenhaft lernt, wird uns lebenspraktisch durch die Beziehungen, in denen wir leben, immer wieder vorgeführt. Hier hat der Lerner aus sozial schwachem Hintergrund bei gleicher Begabungszuschreibung wie ein Lerner aus „guten“ Verhältnissen eben nachweislich nicht die gleichen Chancen. Und diese Chancenungleichheit hat die Schule der Moderne, auch wenn sie es sich zum Ziel gesetzt hatte, nicht beseitigen können.

Wenn wir uns vom Einzelkämpfertum lösen, dann werden auch systemische Ansätze für uns wichtig. Immer wieder werde ich von Studierenden und Lehrenden gefragt, was dies konkret für ihren Unterricht bedeuten soll. Was ist der wichtigste Einsteig in eine Beziehungsdidaktik?

Als Konstruktivist möchte ich dann gerne eine Antwort verweigern, denn ich vermute, dass die einfachen Antworten meist schwere Auslassungen zeigen. Dennoch will ich hier wagen, einen Einstieg zu empfehlen: Beziehungsdidaktik ist für mich immer und zuerst eine Wertschätzung gegenüber dem anderen und sich selbst.

Wertschätzung gegen sich selbst erscheint im Selbstwert. Virginia Satir hat eindrucksvoll gezeigt, wie der „Selbstwerttopf“ bestimmend für die Konstruktionen von Wirklichkeiten und von anderen ist. Und als Lerner haben wir viele Lehrende kennen gelernt, die wir von ihrem Selbstwert her auch für die Wertschätzung, die sie geben können, einschätzen: Der Selbstwert entscheidet sehr oft, ob Beziehun¬gen gelingen und wie dann auch die inhaltliche Kommunikation vonstatten geht. Habe ich ein hohes Selbstwertgefühl, dann fällt es mir leichter, Kritik zu er¬tragen, Niederlagen zu verstehen, nicht mit jedermann Freund werden zu müssen, nein sagen zu können, wenn ich wirklich nein meine, Grenzen zu setzen, auch wenn ich anschließend nicht mehr von allen geliebt werde, Beziehungen mit einem Satz möglichst offen und doch immer wert¬schätzend und klar gestalten zu können. Für die Seite des anderen bedeutet dies dann, dass ich ein Gefühl für den anderen entwickle, nicht immer erst im Nachhinein erfahre, was ich alles falsch gemacht und wo ich andere verletzt habe, sondern auch schon im Voraus Gefühle eines anderen antizipieren lerne. Wertschätzung fällt uns immer dann leicht, wenn wir unsere eigenen Sichtweisen in anderen spiegeln können: „So »sind« wir und das ist gut so“. Zur Wertschätzung gehört aber auch, dass ich fremde, zerstörerisch erscheinende, schädigende oder mich störende oder gar verletzende Handlungen zu verstehen suche, ohne sie teilen zu müssen. Wertschätzung auf der Beziehungsseite bedeutet, andere verstehen zu wollen, indem ich ihr Anderssein nachempfinde und beachte. Dazu muss ich das wertschätzen, was »ist«, was mir aber zugleich erlaubt, eine Distanz aufzunehmen und nach der Wertschätzung (= dem Eingeständnis, wie es auch zu mir negativ erscheinenden Handlungen gekommen ist) mit den Beteiligten eine Veränderung des Bestehenden anzustreben. Die Wertschätzung kann also nicht bedeuten, nur sich und seine eigenen Ziele und Vorstellungen zu schätzen. Und dies, so denke ich, ist ein wesentlicher Einstieg in die Beziehungsdidaktik. Und es ist eine Grundvoraussetzung für alle die, die in irgendeiner Form Lehrer/in sein wollen.