Besetzt Wallstreet!

Seit ein paar Tagen passiert, was ich persönlich seit mehreren Jahren vorhersage, auf das zu hoffen ich trotzdem aufgegeben hatte... In den USA gehen Menschen auf die Strasse, um gegen die "bestehenden Verhältnisse" zu protestieren. Dass sie das in der Gegend der Wallstreet tun, hat symbolischen Charakter, denn sie steht für ein entgleistes polit-ökonomisches Systeme.


Entgleist heist für mich, dass es nicht mehr gelingt, die innerhalb der Teilnehmer des Systems (d.h. der US-Gesellschaft) entstehenden Ungleichheiten zu balancieren oder akzeptabel zu machen.


Jedes soziale System entwickelt eine Menge von Ungleichheiten zwischen den einzelnen Menschen, Professionen, Regionen, sozialen Subgruppen usw. Das läßt sich nicht verhindern. Aber, wenn diese Ungleichheiten in Status, Lebensbedingungen, Lebensqualität etc. nicht mehr als legitim angesehen werden, dann kommt es zum Aufstand.


Religion war deswegen über lange Jahrhunderte das Opium, mit dem das Volk ruhig gestellt werden konte. Es wurde auf ein Leben nach dem Tode vertröstet, in dem die Ungleichheiten (= Ungerechtigkeiten) des irdischen Lebens wieder ausgeglichen würden.


Solche Tröstungen funktionieren heute nicht mehr. In den USA wurden bislang riesige Reichtums- und Lebensqualität-Unterschiede klaglos hingenommen, weil jeder (offenbar) an das Versprechen glaubte, auch er könne irgendwann in einem späteren Leben (vom Tellerwäscher zum Millionär) zu den Happy Few gehören.


Diese Illusion ist zerplatzt, weil dem Markt die Entscheidung überlassen wurde, wer es schafft und wer es nicht schafft.


Dass Märkte weder intelligent noch gerecht noch rational sind und keineswegs zu sozial verträglichen Zuständen führen, wird jedem klar, der sich mit den Gesetzmäßigkeiten von Kommunikation, der steuernden Bedeutung Medien etc. beschäftigt (ich habe ja auch in ein paar Büchern darüber philosophiert). Das Abdanken der Politik (bzw. deren Depotenzierung durch mächtige/reiche ökonomische Spieler) hat nunmehr nicht mehr nur ökonomische Bedeutung, sondern findet über die Proteste/Öffentlichkeit seinen Eingang in die Politik (hoffentlich). Spätestens, wenn es zum Ausbruch von Gewalt kommt.


Die kampierenden Demonstranten in New York und anderen US-Städten haben m.E. aber durchaus die Chance, die bislang gekaufte Politik auch friedlich zu beeinflussen.


Dass dies in Deutschland auch so funktioniert, wage ich zu bezweifeln. Denn gegen den Euro zu demonstrieren ist etwas ganz anderes als gegen den anglo-amerikanischen Raubtierkapitalismus... Die Unterschiede sind in Europa m.E. nicht so existentiell bedeutend wie in den USA, dass sie die Leute in Massen auf die Strassen treiben würden. Ein Effekt wohlfahrtsstaatlicher Institutionen.