Berührende Therapie – nur Maturana stört mich

Ich komm grad durch Berührungen aufgeräumt von einer Therapie-Sitzung nach hause (war am Montag). Es ist immer wieder ein besonderes Erlebnis, einen Menschen zu begleiten, zumal wenn dieser Mensch sich in einem elementaren Moment menschlichen Daseins befindet und sehr ernste Schwierigkeiten hat, Halt zu finden in der Welt und in sich selbst – und eben dicht dabei zu sein, wenn er diesen Halt erneut findet. Im weichen Nachhall fällt mein Blick auf Maturanas Buch, das von gestern noch auf meinem Schreibtisch liegt ... es liegt einfach da, bräsig, als könnt ihm nichts 'passieren'. Ich schlage es ... auf..


Wir könnten "zwischen Wahrnehmung und Sinnestäuschung nicht unterscheiden" steht da apodiktisch. Da sträuben sich mir alle Sinneshärchen. Bewegt man sich doch in der körperorientierten Psychotherapie gerade mit hochsensibler Achtsamkeit, Introspektion, um z.B. strukturgebundene Geisterfilme in ihrer Entstehung zu verstehen und um andere/weitere Wahrnehmungen als Ressource zum Weiterleben zu entdecken.


Es ist glaube ich (auf die Schnelle) wohl so, daß Maturana die Komplexität unseres Lebens entscheidend unterschätzt. Einzelne bestimmte Sinnestäuschungen können (tendenziell!) nie so multiredundant konstruiert werden, daß man keine anderen auch korrigierenden Wahrnehmungen mehr finden und unterscheiden könnte. Welche Art Sicherheit wir dabei positiv finden können, das ist ein Weites Feld.


Natürlich werden wir fortlaufend von Teilpersönlichkeiten in bestimmte Trancen entführt. Aber solange wir eben noch nicht ganz verrückt sind, können wir sie von Anderem, das auch da ist, unterscheiden. Dies gilt als deutliche Tendenz selbst im Traum. Jeder kennt das, im Traum zu spüren, dass man träumt. Es ist immer mehr da, als eine einzelne bestimmte Trance. Genau diesen Umstand übersieht Maturana geflissentlich.


Es gibt keine monolithische Sinnestäuschung in Menschen, solange wir nicht total verrückt sind (das ist jetzt unsauber, aber vielleicht wird trotzdem die Aussage deutlich wahrnehmbar). Oder anders gesagt, wenn Maturana sich tiefer und genauer auf Menschen eingelassen hätte, hätte er erfahren können, welch zerstörten inneren Zustand seine Beschreibung für einen Menschen bedeuten würde. Er beschreibt einen tatsächlich lebensunfähigen Prozess, der nur eine Teilmenge des realen Lebensprozesses darstellt.

Also wenn hier an dieser Stelle optimistisch stimmende Tendenzen zur Sprache kommen sollen, dann wär der obige Gedanke doch was! oder?


... Oha! ... jetzt fällt mir noch was auf. Maturana ist mit der Aussage, wir könnten Wahnehmung nicht von Sinnestäuschung unterscheiden, auch gedanklich schlampig (auch!, aber er hatte mehr Zeit für sein Buch als ich hier). Er differenziert das nicht genauer. Er selbst unterscheidet aber beides zumindest begrifflich. Er sagt nicht, es gäbe nur Sinnestäuschungen und dieser Begriff reiche zur Beschreibung beobachtbarer Phänomene hinlänglich aus. Das sagt er nicht. Also ist es auch nach Maturana sinnvoll, mit dem Begriff Wahrnehmung zu operieren, wir könnten sie nur nicht erkennen und praktisch von Sinnestäuschungen unterscheiden. Woher will er genau das aber wissen, also wie will er diesen Unterschied begründen, mit seiner Theorie? Und wie will er überhaupt das Phänomen 'Sinnestäuschung' wahrnehmen?


Weiter sagt er ja, man könne keine Aussagen über eine eigenständige Außenwelt machen. Schlamperei. Was soll denn das sein – Außen? Außerhalb von was? Ist Maturanas Gedanke nicht schon für ihn selbst außerhalb, noch bevor er ihn aufschreiben kann? Es gibt schließlich keine Reflexion, ohne daß nicht etwas relativ 'Inneres' existierte, demgegenüber der Gedanke etwas 'Äußeres' wäre, und folglich sofort mit Maturanas Aussageverbot belegt werden müsste. (Schließlich sind auch Subsysteme autopoietisch). Und, mehr noch, Maturana darf so garnicht entscheiden können, ob er diesen besagten Gedanken wirklich dachte, oder nicht vielleicht doch etwas ganz Anderes. Er könnte ja etwas Anderes gedacht haben, ohne es zu merken, und hat sich nur eingebildet, er würde diesen einen Satz denken.


Maturanas Gedankenkonstrukt ist immanent zerstört und es gibt keinen Weg da raus. Natürlich denkt er selbst garnicht so wie er sagt. Er legt sich nur keine Rechenschaft darüber ab. So sagt er: "Unter dem heiklen Begriff 'Erfahrung' verstehe ich lediglich, was man gerade erlebt...". Schlamperei allenthalben, denn wie sollen wir das gerade Erlebte als 'Erfahrung' von einer momentanen Sinnestäuschung unterscheiden? Mit Maturana geht das überhaupt nicht, also nichtmal als widersprüchlicher Prozess (– dieser Gedanke eröffnet Lösungen). Aber Maturanas Begriff der 'Erfahrung' blutet aus, sinnentleert sich, so wie ein abgeschnittener Kopf Blut verliert, und stirbt. Grauslig ist das.


Man darf Maturana nur halbernst nehmen, dann nimmt man ihn so, wie er sich selbst nimmt. Er ist viel lebensfähiger als das, was er aufschreibt je sein könnte, wenn es von irgendjemandem so gelebt würde. D.h. der reale Lebensprozess hält den größten Schwachsinn munter aus, lebt einfach darüber hinweg, nimmt z.B. aus Maturanas im Ansatz zerstörtem Konstrukt den Begriff 'Autopoiese', und macht was Tolles draus – na, also wenn das kein Grund zum Optimismus ist, dann weiß ich auch nicht.


Nachdem ich mich so auf Maturana eingeschossen habe gebietet die Fairness zuzugestehen, dass es eine der leichtesten Übungen ist, fragmentarische Produkte von nicht Anwesenden zu kritisieren. Der intellektuelle Disput kann gleichwohl allen Beteiligten Spaß machen und nützlich sein, solange man aus seiner Argumentation kein eigenes Erhabensein konstruiert. In diesem Sinn bitte ich mich zu verstehen.


Und damit grüße ich Sie ein letztes Mal herzlich als Ihr Kehrmeister, reiche den Besen weiter und wünsche uns allen viel Freude beim Vermehren unserer Sinnestäuschungen oder so.

Peter Schlötter