Berliner Bettler

Gestern Abend war ich bei der Eröffnung einer Ausstellung in der Berlinischen Galerie.


Es waren nach meiner Schätzung 500 bis 600 Personen erschienen, die offenbar ziemlich gespannt darauf warteten, endlich den viel zu kleinen Ausstellungsraum betreten zu können. Doch ihre Geduld wurde auf die Folter gespannt, sie mussten in der Vorhalle warten, die meisten standen, die paar Hundert Stühle waren schnell besetzt.


Zunächst trat ein Performance-Künstler auf, der sich als Direktor der Galerie ausgab. Er hielt eine Rede. In geradezu perfekter Weise imitierte er die rhetorischen Schemata der Bettler, die man täglich in der Berliner U- und S-Bahn treffen kann: „Mein Name ist Jörn und ich habe schon seit langer Zeit nicht mehr regelmäßig Geld bekommen und überhaupt ist die Zeit sehr schwer wie ja jeder weiß und wenn die vielen Herrschaften die ja wahrscheinlich zum ersten Mal U-Bahn fahren so nett wären ein bisschen überflüssiges Kleingeld in den Pappbecher zu werfen dann wäre ich außerordentlich glücklich und überhaupt bekommt man dann auch noch ein von Obdachlosen verfasstes Blatt in dem ganz wichtige Dinge drinstehen und von dem Geld bekommen dann andere Initiativen auch was ab und vielen Dank an die Herrschaften die die Glühbirnen gestiftet haben und es geht ja eigentlich nur um Kleingeld und es muss ja nicht viel sein und von Jugendlichen würde ich auch weniger nehmen und es dient ja auch einem guten Zweck ....“


Das ging in dem bekannten, wenig modulierten aber fordernden Ton etwa eine Viertel Stunde so. Der Darsteller schaffte es, in dieser ganzen Fake-Eröffnungsrede nicht ein Wort über die Ausstellung zu verlieren. Er war höchst überzeugend (wirklich Klasse!), denn keiner zweifelte, dass ihn die Ausstellung nicht im Geringsten interessierte und er offensichtlich nur das eine wollte: unser Kleingeld.


Ich bin trotzdem ziemlich sicher, dass ihm keiner der Anwesenden auch nur einen Euro in seinen Pappbecher gegeben hat. Denn die erfolgreichen Berliner Bettler bekommen ihre Becher voll, indem sie ihre soziale Kompetenz zeigen und sich auf die Seelenlage ihrer Kundschaft so einstellen, dass sogar Knauser wie ich sich überwinden und sagen: „Ach, soll er doch auch leben... immerhin hat er sich angestrengt.“ Aber der da? Nicht mal Mundharmonika hat er gespielt.


Wie immer bei solchen Performances stellt man sich die Frage: Was will uns der Künstler damit sagen? Angesichts der Selektion des Publikums (Presse, Fernsehen und offenbar viel Berliner Polit- und Kultur-Prominenz – ich kenne mich da nicht aus) war die Aktion wohl maßgeschneidert und sollte – durch die Wahl der Rolle des Museumsdirektors – die Aufmerksamkeit darauf lenken und problematisieren, welcher Typus von Person (über den Menschen hinter der Verkleidung kann ich nach dem Auftritt ja nichts sagen) und welcher Kommunikationsstil für Berliner Karrieren signifikant ist... Einen anderen Sinn kann ich mir nicht denken. Allerdings scheint mir dies für eine solch aufwendige Aktion wieder zu platt und zu oberflächlich. Also wozu das alles? Und auch noch von unseren Steuergeldern?


Heute Nacht bin ich dann schweißgebadet aufgewacht. Mir war auf einmal die schreckliche Idee gekommen: Vielleicht war das gar keine Kunstaktion?


Erst als meine Frau, die weit mehr Realitätssinn (oder eine weniger morbide Phantasie) hat als ich, mich durch geduldiges Zureden und Beschwichtigen von der Absurdität dieser Idee überzeugt hatte, konnte ich wieder einschlafen.