Baseball

Ein freundlicher Kollege hat mir den folgenden Artikel aus der FAZ zugesandt, der hier unbedingt seinen Platz finden sollte:


Die Systemtheorie und der Baseball

Kein moderner Sport ohne Telegraphie: Wie es zur weltweiten Verbreitung athletischer Leistungsvergleiche kam. Erträge einer Bielefelder Tagung.


Von Jürgen Kaube


Unter allen gesellschaftlichen Funktionssystemen hat der Soziologe Niklas Luhmann eigentlich nur zu einem nichts geschrieben, zum Sport. Die Bücher Luhmanns zum Recht, zu Erziehung, Kunst und Religion der modernen Gesellschaft, seine Studien über Politik, Massenmedien und Wissenschaft gehören zu den maßgeblichen Leistungen seines Faches. Aber zum Sport kein Wort. Sollte es sich beim Sport gar nicht um ein solches autonomes Funktionssystem der Gesellschaft handeln?


Viele Theorien des Sports kommen zu diesem Schluss. Für sie dient der Sport in erster Linie anderen Bereichen: der Wirtschaft, den Massenmedien oder der Gesundheit. Eine eigene Funktion habe er gar nicht. Oder es wird die Aufgabe des Sports darin gesehen, von körperlicher Arbeit entlastete und zugleich gestresste Massen in Erregungszustände zu versetzen. Sport wäre dann ein Ritual, mit dem Zivilisationsschäden kompensiert würden.


An der Universität Bielefeld wurde jetzt mit einer Tagung des verstorbenen Soziologen gedacht, der vor achtzig Jahren geboren wurde. Mit soziologischen Mitteln aus dem Gedankenkreis Luhmanns lieferte dabei einer der interessanteren Beiträge eine Analyse der Entstehung des modernen Wettkampfsports, die ihn als eigenständige soziale Erscheinung beschrieb. Tobias Werron von der Universität Luzern vollzog sie am historischen Beispiel des Baseballs. Sport im modernen Sinne entstand, so seine These, als im 19. Jahrhundert über den Genuss lokaler Wettkämpfe hinaus das Publikum sich für unbegrenzte athletische Leistungsvergleiche zu interessieren begann. Ohne Telegraphie, heißt das, kein moderner Sport.


Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es, vor allem in England und den Vereinigten Staaten, zwar jede Menge sportlicher Veranstaltungen. Aber sie waren lokal isoliert. In New York spielte man nach anderen Regeln Baseball als in Boston oder Philadelphia. Vielfach wurden diese Regeln für den einzelnen Wettkampf eigens verabredet. Außerdem lag der Sinn der Wettkämpfe zumeist in den anschließenden Abendessen. Es ging um gutgelauntes Beisammensein. Das änderte sich erst, als die Telegraphie ins Spiel kam. Sie ermöglichte nicht nur, von fernen Sportereignissen schnell Kenntnis zu erlangen. Bevor das Radio erfunden wurde, gab es sogenannte "Scoreboards", auf denen Baseballspiele nach den Informationen des Tickers in Theatern modellhaft nachgestellt wurden.


Doch der Telegraph, so Werron, beschleunigte nicht nur als Draht die Berichterstattung, er führte als Telegraphennetz auch dazu, dass die Spiele nun miteinander verglichen wurden. Das Publikum begann sich für Sportereignisse zu interessieren, die es gar nicht gesehen hatte. Um 1860 herum verlor das Baseballspiel unter diesen Umständen seinen harmlosen sozialen Charakter.


Die Presse bestand darauf, dass es nicht mehr nur um den Spaß an der Sache gehe. Man ging zu gemeinsamen Regeln über, um einen echten Leistungsvergleich zu ermöglichen. Die 1867 gegründeten "Cincinnati Red Stockings" tourten als erste Profimannschaft durch ganz Amerika und setzten ein nationales Leistungsbewusstsein durch.


Das hatte allerdings einen Nachteil. Bei Mannschaften, die durchs Land touren, genügen ein paar Niederlagen, um das Interesse an ihnen abzuschwächen. Also erfand man die Liga. Und was ist eine Liga anderes als die Organisation des Interesses an Spielen, die man nicht gesehen hat? Es entstand Leistungskonkurrenz unter Abwesenden, die Mannschaften spielen nicht mehr nur gegeneinander, sondern auch gegen Dritte. Außerdem kann man in einer Liga Champion werden, auch wenn man einzelne Spiele verloren hat. Das Interesse der Fans verteilt sich so gleichmäßiger über eine ganze Saison.


Zudem werden die Vergleiche zwischen den Teams komplexer. Niederlagen werden relativiert, und das Publikum beobachtet nicht nur die im Stadion anwesenden Mannschaften, sondern das gesamte Ligageschehen. Freilich neigen Ligen wiederum dazu, den Wert der Einzelspiele herabzusetzen. Dass seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dann im Baseball die Ligaspiele in eine Serie von "play offs", also Ausscheidungsmatches, mündeten, kombiniert die Spannungsvorteile des Wettkampfs mit der Toleranz für Niederlagen die Saison über.


Der Sport zeigt sich in dieser Darstellung als eine Mischung aus dem Interesse am wahrnehmbaren Kampf und am abstrakteren Vergleich, an Präsenz und Zahlenwerk. Die Schönheit der Athletik selbst oder die Spannung des Konflikts zweier Teams bräuchte keine allgemeinen Regeln. Die sind nur für den überlokalen Vergleich vonnöten. Es war in der Geschichte des Baseballs vor allem die Presse, die auf verbindliche Standards und gute Schiedsrichter drängte. Denn erst solche Standards verleihen dem Wettkampf auch eine Bedeutung über das Erlebnis hinaus. Erst das Zusammenwirken von erlebtem, als Interaktion von Athleten erfahrenem Sport und von weltweiten Sportvergleichen macht ihn zu einer eigenständigen sozialen Größe. Ein "System" ist er in dem Maße, in dem seine Attraktivität nicht in derjenigen seiner einzelnen Wettkämpfe aufgeht.


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.12.2007, Nr. 48 / Seite 82