Ayn Rand

Eine der politisch einflussreichsten Autorinnen der USA ist wahrscheinlich Ayn Rand. Von ihren Büchern (aus den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts, der hohen Zeit des kalten Krieges) sind mehr als 25 Mio. Exemplare verkauft worden. Das wäre allein kein Grund, sich hier mit ihr zu beschäftigen. Der ergibt sich aber aus der Bedeutung ihrer Ideen auf die gegenwärtige Politik der USA. Paul Ryan, der Vize-Präsidentschaftskandidat von Mitt Romney orientiert sich - so steht es in den amerikanischen Zeitungen - an ihren Konzepten. Und falls Romney verliert, dann dürfte (= meine Prognose) Ryan der nächste republikanische Präsidentschaftskandidat - 2016 - sein.


Also: Ayn Rand lesen. Das habe ich jetzt getan.


Und was man da lesen kann, ist ein merkwürdiges Gebräu von ziemlich merkwürdigen Ideen, manche ganz plausibel, die meisten schlicht und einfach dumm (finde ich).


Bemerkenswert ist immerhin: Ich habe in den letzten 40 Jahren keinen Autor bzw. keinen Text gelesen, dessen Positionen in größerem Widerspruch zu konstruktivistisch-systemischen Sichtweisen stehen, als Ayn Rand (was natürlich daran liegen kann, dass ich offenbar eher Literatur lese, die meinen Grundansichten nicht zuwider laufen - um mich nicht zu sehr beunruhigen zu lassen, wahrscheinlich...).


Was Frau Rand vertritt ist ein "ethischer Objektivismus". Sie geht von einer absoluten Realität aus, in die man durch Anwendung von Vernunft und unter Beherrschung von Gefühlen und ähnlich irrationalen Verzerrungen des Blicks Einsicht gewinnen kan. Aus dieser Realität ergeben sich für sie objektive Werte, die das Handeln des Einzelnen bestimmen sollten (das ist die moralische Anforderung). Da das Leben der oberste Wert eines jeden ist, ist jeder ethisch verpflichtet, alles zu tun, was dieses Überleben sichert. Andere Werte müssen immer aus diesem basalen Wert abgeleitet sein.


"The Virtue of Selfishness", so heißt ein kleines programmatisches Buch, in dem sie ihre Philosophie (die ohne Gott auskommt) darlegt, ist begründet in einem "New Concept of Egoism" (so der Untertitel). Der Einzelne ist die kleinste Überlebenseinheit, und deshalb ist die Sorge um sich selbst der höchste Wert. Altruismus ist in der Regel nur eine Methode der Ausbeutung anderer bzw. der Selbst-Ausbeutung, die aus einem Mangel an Selbstwert resultiert. Interessensgegensätze und Konflikte gibt es nicht, da stets rational im Sinne der zweiwertigen Logik entschieden werden kann, welches die beste Entscheidung ist. Wer das anders sieht, ist eben nicht rational. Deswegen sind auch Kompromisse unethisch.


Frau Rand vertritt ein klares Schwarz-weiß-Weltbild (das sie selbst auch so nennt), in dem es entweder gut oder böse gibt - keine Grautöne. Die zweiwertige Logik steuert radikal ihr Denken - und sie denkt offenbar auch, dass die Welt so funktioniert...


Gesellschaft gibt es für sie nicht, sondern nur Individuen. Und die müssen halt im Sinne der Marktwirtschaft und des Kapitalismus sehen, wie sie für sich selbst sorgen.


Dass der Einzelne nur als Mitglied eines sozialen Systems überleben kann, dass Altruismus daher auch demjenigen dienen kann, der ihn praktiziert, dass Fühlen auch eine Form der Kognititon sein und eine nützliche Funktion haben könnte, dass aristotelisches Denken nicht die Welt abbildet, dass Ambivalenzen angemessen sein könnten, dass man sich in Paradoxien verstricken kann und sie möglicherweise auch - weil die Begrenzungen der zweiwertigen Logik vor Augen führend - rational sein könnten, dass unterschiedliche Beobachter zu unterschiedlichen Sichtweisen kommen könnten usw.- alles für Frau Rand undenkbar.


Ganz im Gegenteil: Der Anspruch ihres "Objektivismus" ist, die objektive Wahrheit zu besitzen. Und wie und wo immer solch ein absoluter Wahrheitsbesitz behauptet wird, ist er mit einem absoluten Machtanspruch verbunden. Deswegen ist sie kampfeslustig und bereit für ihre Werte zu streiten, um ihnen ganz kompromisslos zum Sieg zu verhelfen.


Mich hat es geschüttelt bei der Lektüre, weil ich an die 25 Millionen (US-)Leser gedacht habe, die Frau Rands Bücher ja wahrscheinlich nicht gelesen haben, um sich zu schütteln. Auf jeden Fall habe ich ein wenig mehr die Argumentation der Tea-Party verstanden, die den Staat in seinen Funktionen radikal begrenzen will und keinerlei Bedenken hat - trotz allen christlichen Fundametalismus - 40 Mio. Mitbürger ohne Krankenversicherung zu lassen. Und mir ist wieder einmal klar geworden, warum ich so viele Amerikaner für Idioten (im wörtlichen Sinne des griechischen Wortes) halte: Wer nicht an Gesellschaft glaubt, sondern nur an die Versammlung von Individuen, von denen die "objektive Realität" fordert, sich egoistisch zu verhalten, hat einfach ein zu schlichtes Weltmodell, um die Paradoxien sozialer Dynamiken und Wechselbeziehungen zu erfassen, die dazu führen, dass es nur zu oft für jeden Einzelnen das beste ist, was er tun kann, wenn er etwas für andere tut... Was dann bleibt, ist das in Amerika leider weit verbreitete Schwarz-weiß-hau-drauf-Modell, denn "Wir sind die Guten..."


Bei dem Gedanken, dass Paul Ryan als Anhänger von Ayn Rand der nächste US-Präsident (oder auch nur Vize-Präsident) werden könnte, ergreift mich ein tiefes Grauen...