Autonomie - Angst - Agency

Ein erfreulicher Nebeneffekt dieses Blogs: Ich konnte gestern meine Frau damit einschüchtern, hier über sie zu schreiben, falls sie ... zum Beispiel weiterhin meine Blog-Überschriften kritisiert ;)


###Eingeschoben: Anderswo###

Gestern erst sehr spät aus Sitzung und Vortrag gekommen. Hochspannend: Bericht über ein Sufi-Trance-Festival zu Ehren von Lal Shahbaz Qalandar in Sehwan Sharif (Pakistan). Obwohl ich ähnliche Feste kenne, übersteigt das noch einiges an (selbst)organisierter Verrücktheit. 600 000 bis 1 Million Menschen, die eine wochenlang fluktuierende, sich aufbäumende und von Höhepunkt zu Höhepunkt driftende Zeremonie des „heiligen Tanzes“ feiern, in dem soziale Schranken aufweichen (äußerst inklusiv) und Körpergrenzen überwunden werden (insbesondere für die im islamischen Kulturkreis eher entrechteten Frauen). Das drittgrößte Fest der islamischen Welt.

Es ist immer wieder erstaunlich wie gut es vielen Kulturen gelingt Rollen für ihre „Verrückten“ zu finden – aber auch diese zu produzieren. In Sehwan Sharif findet sich alles, was unserer europäischen Kulturen seit vielen Jahrhunderten zurückdrängen: religiöse Verzückheit, Besessenheit, Selbstverletzung und –geißelung, Opfer, extreme Formen körperlicher Expressivität und Katharsis, scheinbar tief verwurzelende Erlebnisse von Communitas.

Das alles ist weit weg vom medial vermittelten Bild des politischen Islam. (Die Islamisten haben begonnen Anschläge auf einige Gruppen dieser sufistisch inspirierten „Glaubensabweichler“ zu verüben.)


###Angeschoben: Nebenan###

In der Kehrwoche wurde häufig über Schule geschrieben. Das Thema treibt uns alle um: als Therapeuten, Berater, Bürger, Eltern, Lernende, Visionäre.

Wir reden viel über Schulstandards, „andere Lehrer“ und die Vermittlung sozialer Kompetenzen als Aufgabe der Schule. Meine Erfahrung zeigt – so wie die vieler Kollegen -, dass gerade letzteres durch strukturelle Bedingungen in der Tendenz zur Farce wird: Überforderung, das falsche oder kein Personal für diese Aufgabe, keine Zeit, keine Lust (Abitur in acht Jahren plus „Schule als Familienersatz“: wie geht das? – sagen viele Lehrer).


Zwei Gedanken in diesem Umfeld, die es lohnt zu denken:

Wir haben unsere Schulen nach 1945 als „ritualfreien Raum“ konstruiert – nachdem die Nationalsozialisten eifrig Gebrauch von diesen sozialen Formen gemacht haben. Im Vordergrund sollte der Gedanke sich entwickelnder autonomer Subjekte stehen. Abgeschafft (oder ausgeschlichen) z.B.: Das Aufstehen bei Betreten des Lehrers im Klassenzimmer, das gemeinsame Singen von Liedern, Schulkleidung. Jede einzelne dieser Formen ist beinahe lächerlich in ihrer Wirkung auf das System Schule, alle zusammen aber kreieren Atmosphäre, identifikatorische „Ordnung“ (auch positiven Raum für Widerstand), Binnengrenzen und Rhythmizität innerhalb des Systems Schule. Außerdem: Raum für expressive Interaktionen. Das alles hat einen Einfluss auf das Konstrukt sozialer Kompetenz (Eine Behauptung, der viele Zustimmen, die aber im übrigen relativ wenig erforscht ist.) Solche Rituale als „kulturelle Ordnungssysteme“ weisen vor allem über den Einzelnen hinaus, verweisen auf gemeinschaftliche Versuche von Gestaltung.

Diese sind neben den vielen Formen neuen Lernens als Korrektiv zu einem Autonomie-Konzept notwendig, das sich mehr und mehr an der Befähigung zur Auswahl von Konsumgütern orientiert – ohne dass das jemand wirklich „will“ oder „steuert“.

Rituale können sehr allgemein auch als „performative“ soziale Formen mit Mustercharakter definiert werden. Viele „wirksame“ Formen werden in der Regel nicht spontan neu erfunden, sondern imitatorisch erlernt. Mimesis. Klar gibt es Dynamik, Variation, Erfindung. Zum Muster werden diese aber durch funktionalen Erfolg und wichtig: durch *Vertrauen* in die „Autorität“ des Musters (bzw. Der Mustermacher). Dann können und dürfen sie auch ins Vorbewusste, Automatische „absinken“. Die Wirkmächtigkeit von „Ritualen“ beschreibt man normalerweise mit dem Begriff *Agency*. Das beinhaltet Vorstellungen über Ursprung, „Kraft“ und Sinn dieser Formen.

Solches Vertrauen fehlt weitestgehend, gerade im Schulbereich. Die Wiedereinführung ritualähnlicher Formen auf Klassenzimmerebene ist da eher ein hilfloser Versuch – obwohl manchmal trotzdem erstaunlich wirksam. Wie kreiiert man also Agency?


Insgesamt: großes Interesse von Schülern selber an *“Performanzen“*. Zeigt sich schon an kleinen Dingen wie der Eigenkreationen des Grüßens und Verabschiedens. Geringes Interesse bzw. Aufmerksamkeit von Schulleitungen auf soziale Formen in Unterricht, Pausenhof, Schulfest usw. Hier wird eine Steuerungschance verschenkt.

Das Thema ist keineswegs „konservativ“ oder „liberal“, wir sollten hier das 68er-Sentiment gegenüber den „Ritualen“ überdenken. Wir haben mit der schleichenden Ent-Körperung und Vergeistigung von Gesellschaft und Schule ein Aufgabenfeld über das zuwenig diskutiert wird (es verbergen sich auch, aber nicht nur Probleme der sozialen Schichten darin). Das reicht eben hinein bis ins Klassenzimmer und der (irgendwie wohl nicht erstaunlichen) Unfähigkeit sechs Stunden stillsitzen zu können. Was tun!?


###Angefangen###

Ich habe im letzten Jahr - und nächsten September wieder – zum ersten mal systematisch mit *Großgruppen* von Schülern gearbeitet: jeweils 70 bis 80 Fünfzehnjährige, damals eine suchtpräventive Arbeit zum Thema legale und illegale Drogen. Klassenübergreifend, schulübergreifend, Sonderschule bis Gymnasium, innerhalb einer Gemeinde.

Eine zunächst anstrengende, aber immer interessanter werdende Form. (Das sind ja auch diejenige, die sich dann auf der Straße, in der Freizeit begegnen.) Die Jugendlichen erfinden sich teilweise neu in ihrem Lern- und Vorbildverhalten jenseits der Klassengemeinschaft. Und es ist möglich über „Regeln“ zu sprechen. Die „Autorität“ der Peers ist bekanntlich enorm und kommt normalerweise nur informell zum tragen.

Für solche Ausflüge und Experimente in soziale Kompetenz braucht es meines Erachtens eben: Raum, Zeit, (unbürokratische) Ideen, auch einfache „Rituale“.