Ausschreitungen

In den letzten Tagen liest, hört und sieht man viel von "Ausschreitungen" in Athen. Das führt natürlich jeden Leser/Hörer zur Frage, was man denn unter "Ausschreitungen" zu verstehen hat.


Wie schreitet man aus?


Woran erkennt man, dass man selbst/jemand anderes ausschreitet?


Wie lernt man auszuschreiten?


Kann man auch aus Versehen ausschreiten?


Gibt es Qualitätsunterschiede, d.h. bessere oder schlechtere Ausschreiter bzw. bessere und schlechtere Formen der Ausschreitung?


All diese Fragen sind natürlich grundlegend, und wahrscheinlich kann sie jeder, der von Ausschreitungen berichtet, beantworten. Ich lasse die Antwort deswegen hier weg und wende mich der Frage zu, was denn passiert, wenn irgendwie oder -wo ausgeschritten wird.


In der Regel wird dann nämlich - und das dürfte kein Zufall sein - "eingeschritten".


Mir scheint, hier wirkt die Ein-aus-Logik, wie man sie auch von elektrischen Apparaten kennt, nur in umgekehrter Richtung. Man schaltet das Radio, den Fernsehapparat, den elektrischen Rasierapparat, Rasenmäher oder Wasserkessel ein, und wenn man das getan hat, dann muss man ihn eben auch wieder ausschalten. Das gebietet schon der Energiespar-Imperativ. Wenn man nicht will, dass unnötig Energie verschwendet wird, muss man diese Geräte wieder ausschalten, wenn sie einmal eingeschaltet sind.


So ähnlich scheint das auch bei den Ausschreitungen zu funktionieren. Auch hier wird offenbar eine Menge an Energie aktiviert und frei gesetzt. Und durch die Reaktion darauf wird versucht, diese Entladung zu einem Ende zu bringen.


Was misstrauisch machen sollte, ist die Verwechslung von ein und aus im Sprachgebrauch. Beim Einschalten wird ein Unterschied gemacht, der für eine Abweichung von der selbstverständlichen Erwartung sorgt. Man erwartet einfach nicht, dass der Rasierapparat den ganzen Tag läuft. Das ist bei Fernsehapparaten zweifelhaft, bei Kühlschränken hingegen ist der Dauerbetrieb die Norm. Die sollen ständig eingestellt sein, und man fragt sich: Wer hat sie ausgestellt? Und warum?


Das Aus der Ausschreitung ist nun aber nicht mit irgendeiner Vorstellung von Schaltung (= Apparatigem) verbunden, sondern mit dem Schreiten, d.h. der Fortbewegung von Menschen. Wer ausschreitet, verändert seinen Standort. Entweder er bewegt sich in eine bestimmte Richtung (der kräftig ausschreitende Wanderer, zum Beispiel) oder er macht Schritte, die aus einem Territorium heraus (über eine Grenze, zum Beispiel) führen. Das führt zwar vom gegebenen Ort fort, wird aber nicht von jedermann als Fortschritt betrachtet...


Dann wird meistens eingeschritten. Das, was hier mit "Aus-" charakterisiert wird, ist eine Normverletzung, die Grenzüberschreitung. Das Ziel des Einschreitens ist, die Ausschreiter wieder dorthin zurück zu bringen, wo sie vor der Ausschreitung waren: In den Bereich gutbürgerlicher, unauffälliger Schritte.


Aus plus Ein = Null.


Dass diese Rechnung in der Regel nicht in dieser Weise aufgeht, wird deutlich, wenn man den Begriff des Einschreitens ein wenig unter die Lupe nimmt. Aber das lasse ich hier sein (aus Bequemlichkeit), schließlich kann das ja jeder selbst machen...


Nur soviel: Man muss als Einschreiter wahrscheinlich ebenfalls die von den Ausschreitern überschrittene Grenze überschreiten, um die Ausschreiter von außen wieder nach innen treiben zu können. Deswegen sind die meisten Einschreiter erfahrungsgemäß ebenfalls Ausschreiter. Allerdings werden ihre Ausschreitungen als Einschreitungen umdefiniert und legitimiert. Die Frage ist eben immer, wer die Definitionsmacht hat.