Auer und ich

Liebes Webtagebuch,


rückblickend betrachtet, dauerte meine Karriere als Tagebuchschreiber nie sehr lange: beim ersten Versuch, es muss in meiner Mittelschulzeit gewesen sein, war der Eintrag über den vergangenen Tag so detailliert, dass ich zwar zufrieden über jenen erfüllten Tag schnell eingeschlafen bin, am darauf folgenden Tag aber sofort klar war, dass ich die Energie für eine derart engagierte Beschreibung für die restliche Zeit meines Lebens nicht aufbringen würde können. Aus heutiger Sicht sollte ich Recht behalten, denn aus dem Wissen darüber, was danach kommen sollte, kann ich mir beim besten Willen auch heute noch nicht vorstellen, wie Menschen die Zeit aufbringen, umfangreiche Tagebücher zu schreiben.


Mein zweiter Versuch dauerte etwas länger und wurde von mir als „Lebensbuch“ betitelt. Als Mitte 20-Jähriger hielt ich darin Sinnsprüche, Weisheiten, philosophische Gedanken, von mir als genial empfundene Sätze von Literaten und anderen feinsinnigen Menschen fest. Es waren Lebenshilfen im besten Sinne. Meinem Lebensbuch war wie mir ein tragisches Schicksal beschieden. Es endete genau an jenem Tag, an dem ich mit ganz großer Gewissheit wusste, dass ich die Frau, in die ich zu diesem Zeitpunkt unsterblich verliebt war, nicht bekommen würde. Kein Sinnspruch, keine Weisheit und auch kein philosophischer Gedanke reichte aus, um diesem Schmerz gerecht zu werden. Und ich schwor, dass ich nie wieder einen Satz in dieses Lebensbuch setzen würde und schrieb diesen Schwur als letzten Satz nieder. Punkt. Das Tagebuch bzw. Lebensbuch-Schreiben hatte sich wieder einmal von selbst erübrigt und für einige Jahre erledigt.


Und nun tritt plötzlich der Carl-Auer Verlag in mein Leben, ja bestimmt sogar weite Teile meines Lebens und sorgt geschickt durch seine Bücher und die Herausgabe meines eigenen Buches dafür, dass ich keine Zeit zum Tagebuch-Schreiben finde, ja, nicht einmal mehr auf die Idee komme, etwas Tagebuch-Ähnliches zu verfassen. Und das ironischerweise, obwohl es in einigen Auer-Büchern einige therapeutische Methoden nachzulesen gibt, die das Schreiben von Tagebüchern als narrativen Zugang zu den Lebenserzählungen eines Menschen vorschlagen. Und ironischerweise auch deswegen, weil mich genau jener Carl-Auer Verlag jetzt bittet, eine Woche lang etwas ins Internet zu stellen. War also die Idee meines Lebenstagebuchs doch nicht so schlecht? Habe ich es nur zu früh abgebrochen? Oder reichten meine Visionen als Jugendlicher nicht so weit, dass die Fortführung dieses Buches auch eine therapeutisch-heilende Wirkung in mir hätte entfalten können?


Ich sollte wieder einmal gnädig sein mit mir und wende mich noch einmal dem Carl-Auer Verlag zu. Der Name alleine löst in mir einiges an Assoziationen aus. „Auer“, so heißt in meiner Heimatgemeinde im oberösterreichischen Mühlviertel jeder zweite Bauer. Das hat also etwas rauhes, rustikales und räuberisch-verruchtes. Dann hatte mein Großvater, ein passionierter Jäger, den letzten Auerhahn unserer Gemeinde abgeschossen und ihn sich ausstopfen lassen. Zusammen mit Dutzenden anderen toten Tieren ziert er jetzt als stolze Trophäe das Vorzimmer meiner Großmutter. Dann gab es bei ORF-Kunstradio, wo ich einige Jahre als Webprogrammierer werkte, eine etwas eigenartige Langzeit-Radiokunst-Sendung mit dem Titel „Familie Auer“, deren Sinn ich nie verstand und bis heute nicht verstanden habe. Dann fällt mir meine Kollegin Tina ein, die die Tortenecken einer Firma besonders liebt, die auch irgendwie an den Namen Auer erinnern. Und dann kommt schon der Carl-Auer Verlag! Jippie!


Ich bin langsam auf ihn gestoßen. Wahrscheinlich Anfang des neuen Jahrtausends und im Zuge meiner Therapieausbildung in der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien. Bald wurde klar: mindestens jede zweite Buch von Interesse ist in diesem Verlag erschienen. Fragen und Mutmaßungen tauchten in mir auf wie: Wer sind diese Leute? Wer kommt auf die Idee, einen systemischen Verlag zu machen? Gute Idee, eigentlich ... und Dankeschön, dass ich am systemischen Wissen anderer mitnaschen darf. Und: Wer bitte ist dieser mysteriöse CARL AUER? Die ersten Auer-Bücher folgten, mehrere kamen nach und nach nach, heute sind es schon ziemlich viele und es werden immer mehr. Das Regal, das ich damals für systemische Literatur angelegt habe, ist längst nicht mehr allein, sondern ein System aus Regalen und schon frage ich mich wieder einmal, wohin mit all den systemischen Büchern. Schließlich habe ich mit mehreren Verlagen verhandelt, weil ich mittlerweile schon so groß geworden war, dass ich selbst ein Buch geschrieben habe. Das war eine jahrelange Prozedur, weil ein Autoren-Greenhorn wie ich von Verlagsverträgen bisher keine Ahnung hatte. Ich war mir schon relativ sicher, zwei andere Verlage für mein Buch gefunden zu haben. Doch dann drängte sich ein Winzling in meinem Kopf in den Vordergrund, der meinte: Warum nicht gleich beim...? Schon? Gleich auf den Olymp? Himmel!


Wir haben gefeilscht, gehandelt, gearbeitet und geschuftet, uns kennen gelernt und sind eine Beziehung eingegangen, vertraglich versteht sich. Und als dann alles vorbei war, habe ich mich kürzlich gegenüber einer hohen Auer-Repräsentantin zu einer Aussage hinreißen lassen, nämlich zu der, dass ich zu 99% ohnehin nur Auer-Bücher lese, wo ich mich unmittelbar nachher gefragt habe, ob das überhaupt stimmt. Für den Moment stimmt es und ich ertappe mich täglich beim Durchblättern des Auer-Jahreskatalogs und dem Gedanken, welches Buch ich als nächstes kaufen und lesen werde. Sicher, es gibt ja auch systemische Autoren, die in einem anderen Verlag veröffentlichen und dann sage ich heimlich zu mir: „Mensch, das wäre doch ein Buch für den Auer-Verlag gewesen! Warum hat der Autor nicht den Auer-Verlag für sein Buch gewählt? Gibt’s da triftige Gründe dafür? Konnten sie sich nicht einigen? Haben sie sich gar zerstritten? Oder wollte der Autor auch den anderen Verlagen eine Chance geben, sich auf systemischem Gebiete zu profilieren? Genau das Buch fehlt dem Auer-Verlag zur vollständigen Repräsentation systemischen Gedankenguts – wie bedauerlich!“ Liebe Leserinnen und Leser, bitte seien Sie gnädig mit meiner zwanghaften Bibliophilie. Beim Auer-Verlag sieht man spätestens in diesem Moment sicher schon das Schmalz von den Wänden tropfen, aber dieses kleine Amusement gehört zu den kleinen Freuden eines schelmischen Gelehrten mit seinem kleinen Hang zur Anbiederung. Hält Auer soviel Weihrauch aus? Oder ist es aber nur ein Versuch der Provokation, einfach um zu testen, ob Auer so etwas wie eine Zensur hat und mir das Veröffentlichen dieser Zeilen untersagt.


Ich habe unmittelbar nach Abschicken des 99%-Kompliments an Auer das Angebot erhalten, die gesamte Woche diesen Weblog mit meinen Gedanken zu füllen, was ich hiermit gerne beginne. Den Gedanken, ob meine Gedanken überhaupt jemand anders interessieren, habe ich gleich wieder weggesperrt, externalisiert sozusagen. Und glauben Sie mir, liebe Leserinnen, es war nur der erste Tag so persönlich. Ein Einstandsgeschenk sozusagen, als Hilfestellung, meine Person etwas rekonstruieren zu können und die Welt aus der ich komme. Für die kommenden Tage erwartet Sie eine beinharte philosophisch-systemische Grundlagendiskussion, zu der ich Sie vorweihnachtlich und in herzlicher Weise einlade. So viele interessante Menschen in einem Forum, da hoffe ich auf Ihre Meinung und bitte um Ihre Anregungen! Seien Sie gegrüßt und mit den besten Wünschen versehen. Im Ausblick auf morgen bin ich übrigens der felsenfesten Meinung, dass die Naturwissenschaft die Welt nicht retten wird, sondern der verbesserte Umgang der Menschen miteinander.